"Der
beste Schutz der Dinge ist, uber sie zu schweigen."
"Fur
das Genanntwerden zahlen die Dinge einen Teil ihrer Realitat als
Provision."
Oder:
"Um ein Phanomen ausreichend zu beschreiben, mub man einen Mechanismus
erzeugen, der das zu erklarende Phanomen erzeugt."
Mit
diesen Aphorismen erschwere ich mir regelmabig den Einstieg in Schreibarbeit,
deren Inhalt mir besonders nahe geht. Dafur liefern sie mir Kriterien und
Denkbruche, mit denen sich gut beschreiben labt.
Aleksej
Tegin: Schamanistische Musik
Pitljuras
ist einer der neuen Treffpunkte in Moskau fur ein bestimmtes, exzentrisches
Publikum.
Dieses
Haus hatte auch fur Garik Wino- aradow Anziehungskraft, der nun ebenfalls dort
arbeitet. Der 32jahrige Kunstler entwirft Klangobjekte, die er in theatralischen
Performances einsetzt. Er gehurte - zusammen mit Andrej Rojter und Nikolaj Fi-
latow - zu der für die 80er Jahre wichtigen Gruppe des „Kindergartens".
Der „Kindergarten" hatte von 1984-87 seinen Ort in dem zweistuckigen
Gebäude eines ehemaligen Kindergartens in der Chochlowski Gasse. Zu einer
Zeit, als die Künstler der Gruppe „Fliegenpilze", die vorher die
wichtigste Szene Moskaus bildete, ihre Einberufung zur Armee erhielten, wurde
der Kindergarten zum neuen geistiaen Zentrum der Moskauer Kulturszene. bberall
in er Stadt dienten Graffitis als Wegweiser zu dem Haus, wo Ausstellungen
organisiert, Kunst gesammelt und philosophische Debatten in grober Runde
abgehalten wurden. Kunst und Leben verschmolzen. Dia Rasur von Winogradows
Kopf wurde als ästhetisch bedeutsames Ereignis in einem Film dokumentiert. Die
frühen Objekte Winogradows wurden hier zu Klanginstrumenten und sein beruhmtes
musikalisches oder „bikaponisches" Zimmer entstand. Winogradow ist ein
selbsternannter My- stagoge, dessen Mysterium im bikaponi- schen Raum
stattfindet. Schlüssel zu seinem Werk ist ein Lexikon von Neologismen, das er
im Zusammenhang mit seinen Aktionen erstellt hat. Den wichtigsten Begriff, das
„Bi- kapo", definiert er als „Zustand des Spiels und der schöpferischen
Aktivität und die Energie dieses Zustands".
Der
Kindergarten
Der Raum
ist angefüllt mit metallischen Konstruktionen und kinetischen Objekten, einem
Wald von Metallröhren, die er nach dem Prinzip der Improvisation unter Einsatz
von Gasbrennern, Metallklöppeln oder seines eigenen bekleideten oder
unbekleideten Körpers, insbesondere des Kopfes, bespielt. Die Geräusche im
Raum, etwa die Flamme eines Gasbrenners, werden über Röhren oder Klangkörper in
Form von Zinkbadewannen verstärkt. Der Raum liegt meistens in von Kerzenlicht
erhellter Dunkelheit und vibriert von den Klängen und Schritten. Für Winogradow
ist die Kommunikativität und Atmosphäre des Ortes Grundvoraussetzung der
Arbeit. Nach dem Kindergarten arbeitete er vor kleinem Publikum im gekachelten
Badezimmer der Wohnung seiner Mutter und fand nun in der Umgebung Pitljuras
einen neuen Ort.
Studio
des Stylisten Pitljura
Die
Situation Moskaus in der postsowjetischen Ara ist durch einen kompletten Werteverlust
geprägt. Trotz der vielzitierten neuen Freiheiten im Verlaufe der Perestroi-
ka-Periode unter Gorbatschow, die die Linien zwischen dem sozialistischen Erbe
und der inoffiziellen Kultur verschwimmen ließen, befindet sich Russland jetzt
tatsächlich in einem Zustand der „Stunde Null". In den 80er Jahren wurde
der Kampf zwischen der Unterordnung unter die sozialistischen Werte und der
dissidentischen Opposition mit anderen Mitteln fortgesetzt. Mit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion sieht sich Russland in einen Zustand der radikalen
Neuorientierung versetzt. Westeuropa und Nordamerika verloren ihr Feindbild
und ihre ideologische Alternative. Auch sie stecken in einer tiefgreifenden Depression
und sind auf sich selbst zurückgeworfen. Das geistige und wirtschaftliche
Vakuum in Russland erzeugt hingegen ein kreatives Potential für exzentrische
Grenzübergänge. Trotz der fatalen wirtschaftlichen Situation und dem Fehlen
staatlicher Unterstützung zum Aufbau neuer Strukturen herrscht im Bereich der
Kultur Aufbruchstimmung. Diese allgemeine Unsicherheit setzt in der Kultur
eine Bereitschaft zum Experiment, zum Risiko frei, wobei die Resultate weniger
zählen als die Aktionen selbst. Die Schizophrenie, die den Akteuren und ihren
Aktionen innewohnt, spiegelt den Werteverlust der SowjetgeseTlschaft wider.
Während Russland im Chaos versinkt, ist Moskau die neue Hauptstadt der unbegrenzten
Muglichkeiten.
movitsch
in das Projekt ‘Internat-i-onal- bielka” intergriert hat. sucht seinesgleichen.
Die Eichhörnchen (bielka) tanzen und performen auf flippigen Modeschauen.
Um den
Versuch zu unternehmen. die Atmosphäre im PI 2 Hamburger Leserinnen und Lesern
zu vermitteln: Wenn die Hafenstraße. Flora, Villa Lupi und die Kaifu-Ga- lerie
in einem zentral gelegenen Block ein gemeinsames Projekt starten würden, könnte
vielleicht in Hamburg ähnliches entstehen. Dem steht leider unser ausdifferenzier-
tes Denken im Wege.
Die WG
um Petljura bildet den kommunikativen und organisatorischen Kern der
Kunstinsel. Die sechs (drei Frauen, drei Männer) teilen sich Küche, Bad und
Porte- monaie. Bar, Cafe und second-hand-shop bringen so viel ein, daß jeder
gut von der gemeinsamen Kasse leben kann. Nebenbei ernähren sie ein
hinreißendes Hunde-Trio. Auf dem Grundstück wohnen noch ca. zehn andere
Künstlerinnen; andere haben dort ihr Atelier, und mehr und mehr nutzen sie den
PI2 als Veranstaltungsraum. Kontinuität hat der Musiker Vonogradov mit seinen
sonnabendlichen Konzerten gebracht. Sein Ministudio nennt sich “Tibetisches
Musikzentrum”; seine Musik ist eine wilde Mischung aus Eisenschrott-Percussion,
tibetischen Mönchsgesängen und kindlichem Feuerkult.
Kaum zu
beschreiben sind Bronja und Abromitsch, die das Gehöft schon lange vor der
Besetzung bewohnten. Beide sind ca. 60 Jahre alt, von kleinem Wuchs, in unseren
Breitengraden wären sie sichere Kandidaten für die geschlossene Verwahrung. Er
ist gehbehindert, auf einem Auge völlig und auf dem anderen fast blind. Mit
seiner ausgewachsenen Lenin-Macke könnte er einen echten Kinohelden aus
“Freaks” oder dem “Kuckucksnest” abgeben. Bronja ist gespalten in die
hutzelige, verängstigte Rent- ner-zwergin und das glücklich tanzende Mannequin:
Die neue Moskauer Primaballerina der Debila-Kultur. - Kunstkritiker streiten
sich noch, ob Avantgarde, Konzep- tualismus oder Soz-Art angesagt sind. De-
bila und Dekultura sind die aktuellen Reaktionen auf den Einbruch des westlichen
Tollhauses mit McDonald, Drogen, Dollars und Strapsen.
Im Cafe
und in der Bar treffen sich am Wochenende Künstlerinnen und Individuen aller
Schattierungen. Bis auf Alkohol ist man/frau drogenfrei und es herrscht eine familiäre
Atmosphäre. Dank defensiver Pressearbeit und guter Preispolitik (kein Eintritt/niedrige
Preise) treffen sich hier überwiegend Moskauer Normalverdiener und nicht die
gelangweilten Ausländer und dollarverdienenden Neureichen, die bisher fast
jeden Moskauer Club in kürzester Zeit “ausdifferenziert” haben.
Mit
westeuropäischer Soziokultur hat der P12 wenig gemein, aber sie ließe sich ohne
weiteres integrieren, gäbe es dazu das stadtpolitische Umfeld. Im Sinne einer
erweiterten Stadtkultur kann der PI 2 ein Prototyp für selbstorganisierte
Kunstinseln innerhalb russischer Großstädte werden.
Bisher
und noch einmal im Juni dieses Jahres unterstutzt der Berliner Senat die
“Debilen” mit Reisekosten für Künstleraustausch und Transport. Das
Goetheinstitut ziert sich noch; vielleicht sind die ja wirklich verrückt.
Hamburg klebt zu sehr an der Partnerstadt St. Petersburg, um das Kunstgeschehen
in Moskau verfolgen zu können - außerdem werden Hanseaten reich durch das Geld,
das sie nicht ausgeben.
Wie hoch
der Realitätsverlust durch das Genanntwerden im Querstreifen ist, weiß ich
nicht. Durch meine Mitarbeit (Projektarbeit, Schreiben, Faxen, Kochen und Abwaschen)
wird er hoffentlich aufgewogen.
Aufgrund
einer kürzlich gefallenen Entscheidung der Moskauer Stadtentwicklungsbehurde
besteht Hoffnung, dab der Gebaudekomplex unter Denkmalschutz gestellt wird.