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DE LUSTAUF DEN LUXUS.Stern,1988.(germ)

Im Restaurant des ehemaligen Mos­kauer Olympia-Dorfes wurde das »Lux« eingerichtet, das erste Kauf­haus der Sowjetunion mitTrend-Mode

 

V ovon   traumt ein I Kaufhauschef in Moskau? Vom Umsatz? Von der Erfüllung des Plansolls? Oder davon, daß man ihm den Laden einrennt? Darum hat sich Murat T. Gadginsky von Anfang an nicht kummern mussen. Doch an den Tagen vor Weihnachten war der Andrang größer als bei einem Eishockeyspiel, da mußte er stundlich mehr als tausend Besucher ein- und ein ziemliches Gedränge zulassen.

Pullover, Hemden, Blusen, Schuhe, Jogging-Anzuge und vor allem Leder- und Kunst­stoffwaren konnten kaum so schnell aus dem 5000 Quadrat­meter großen Magazin geholt werden, wie sie verkauft wur­den. Statt der im Schnitt 310 000 Rubel Tagesumsatz zählte er abends bis zu 660 000 Rubel in der Kasse. Und ausge­rechnet an diesen Abenden hat­te der Direktor eine Vision: »Mein Kaufhaus ist geöffnet«, sagt er traumerisch, »und es kommen nur ganz wenige.«

Ein fauler Funktionär? Ein Oblomow der Warenwelt? Gar ein Partisan gegen die Pere­strojka, die Schwung in die Wirtschaft bringen und den pri­vaten Konsum ankurbeln soll? Durchaus nicht. Der 41jährige mit der Statur eines Halb­schwergewichtlers, dem die Sparringsrunden und Schwitz­bäder fehlen, will nur nicht län­ger die endlosen Schlangen an den Kassen sehen, schon gar nicht den Allerweltskram zu dem von den »Preisplanungsbe­hörden« ermittelten Einheits­preis verkaufen. Darunter hat er jahrelang als Direktor eines fabrikeigenen Kaufhauses gelit­ten: »Hemden anbieten zu müs­sen«, schnaubt er, »von denen man allerhöchstens zwei im Schrank haben will.«

 

Zweimal am Tag findet Im Show-Room des »Lux« eine Modenschau statt. Vor einer Großbild-Leinwand mit Video-Clips präsentie­ren Mannequins westli­che und heimische Mode

»WIR HABEN DIE REALITÄT

EINER FARBENREICHEN WELT

NEU ERKANNT«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Nein, er träumt davon, sei­nen Laden zur modischen »Vi­trine unseres Landes« zu ma­chen, Wünsche zu wecken und die Träume seiner Kundinnen zu erfüllen. Chef einer »Schule des guten Geschmacks« will er sein, heute das »Kaufhaus der tegen »the sharper image« ge­nannt wird und den Genuß nei­discher Blicke.

Natürlich ist es auch in Mos­kau teurer, einen besonderen Geschmack zu haben. Ohne Wettbewerb, sagt Murat T. Gadginsky, »wird es keine Um­gestaltung des Alltagslebens ge­ben«, und bei diesem Wettbe­werb »wird mit dem Rubel ab­gestimmt«. Vorbei die Zeiten, da die Konsumgüter-Industrie die Erfüllung von Planzielen und Sollzahlen über die Wün­sche der Verbraucher stellen und sich darauf verlassen konn­te, daß Verlustproduktionen durch Subventionen gedeckt wurden.

Verkaufen können die Kon- fektions-Fabriken nur, wenn sie wissen, was die Leute wollen. Sie wollen zum Beispiel, wie STERN-Stilist Frankie Mayer und ich in der Sauna erfahren, eine Rolex-Uhr, und da es die nicht einmal im Devisenladen gibt, will der junge Arbeiter aus einer Möbelfabrik meine direkt vom Arm wegkaufen. Oder ob er uns denn wenigstens einen schicken Parka abkaufen kön­ne. Frank bietet ihm seine Jacke an, er möge sie doch am Abend vor der Abreise abholen, »bis dahin brauche ich sie noch«. Was für eine das denn sei, will unser Schwitzgenosse wissen. Nein, eine grüne, daunengefüll­te Windjacke ohne Designer- Etikett hat er nicht im Sinn, es soll ein Leder-Blouson sein, »am besten von Armani«.

Der ist, vorläufig jedenfalls, auch im »Lux« nicht zu haben. Für teure Einkäufe hat das Haus noch kein Geld. Die so­wjetische Leichtindustrie will exportieren und ist, zur Qua­litätsverbesserung heimischer Produkte, an »Joint Ventures« mit westlichen Firmen interes­siert (siehe Seite 154-166).

Sie sollen vor allem techni­sche Entwicklungshilfe sichern. »Wir haben zwar die Rohstof­fe«, sagt Gadginsky, »doch die Technologie für die Veredelung der Stoffe und bessere Verar­beitung müssen wir importie­ren.« Was helfen die Schnitte von Cardin, wenn die Anzugho­sen zu steifbeinig stehen und die Stoffe nicht fließen. Hemden und Blusen sind mit einfachen, nicht mit Kapp-Nahten genaht, und lose Faden irritierten etli­che westliche Mode-Einkäufer, die in Moskau und Leningrad erste Visiten abgestattet haben. Sie alle aber sagen, daß die De­signer sich hinter ihren Kolle­gen im Westen nicht verstecken mussen.

Nur müssen auch die Sowjet­bürger dies mitkriegen - und zwar nicht uber eine bleierne Erfolgsmeldung in der »Pra­wda« oder eine Politparole im

 

Der Fortschritt Ist eine Schnecke: Trotz Compu- ter-Technik bilden sich Im »Lux« vor den Auslagen, Anprobe-Kabinen und Kassen lange Schlangen

 

»WIR BRECHEN FEST­ GEFAHRENE POSITIONEN AUF«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Zukunft« planen und herausfin­den, »was Chancen hat auf un­serem Markt«.

Aber gibt es denn, um alle Vorurteile als Fragen loszuwer­den, überhaupt einen »Markt« in der Sowjetunion? Angebot und Nachfrage? Schlendert man, zumal im Winter, durch Moskau, ist man nicht allzu vie­len schicken Verlockungen aus­gesetzt. Die wenigen Läden mit ihren Auslagen sind so reizvoll wie ein Dorfgeschäft mit Näh­garn, Häkeldecken, Brokatkis­sen und Korsetts im Fenster. Alle Farben sind zu haben, vor­ausgesetzt sie sind grau, grauer oder grauenvoll braun.

Gewiß, das Lust-Spiel der Mode wird in den Straßen von Moskau und Leningrad noch nicht aufgeführt, gegen das Winterwetter wird auch die Pe­restrojka nichts ausrichten. Aber man muß durchaus nicht ein paar hochprozentige Wäs­serchen getrunken haben, um sich die russischen Frauen schön zu gucken, diese Gesich­ter mit den hohen Wangenkno­chen, den großen und seelen­schweren Augen und den vollen Lippen. Im Bolschoi-Theater, im Puschkin-Museum, im Re­staurant sind die Röcke so kurz und so eng wie in Paris, Mailand oder München - und die Beine lang und schlank genug.

 

»Sieben Jahrzehnte haben wir uns um wer weiß was alles gekümmert«, sagt Slawa Sai- zew, »jetzt hat jede russische Frau endlich das Recht, schön zu sein.« Vom Alt-Star der so­wjetischen Haute Couture, den sie den »roten Dior« genannt haben, war solch eine Parole zu erwarten, aber auch dem Vize- Minister für Leichtindustrie ist inzwischen aufgegangen, daß »

 

Mode jene Schönheit ist, nach der sich die Menschen sehnen, vor allem die Frauen«. Und da die Frauen, wie Iwan Grizenko, Mao überbietend, sagt, nicht nur »die Hälfte des Himmels« sind sondern »Dreiviertel des Himmels«, will er sich gut stel­len mit den Himmelswesen sei­nes Landes. »Wenn eine Gesell­schaft sich nach vorn bewegen will«, sagt er, »braucht sie Mode und ihr Spiel auf dem Markt.«

Welcher Markt gemeint ist und welches Spiel, verrät der Name des von Murat T. Gad­ginsky geführten und im Sep­tember vorigen Jahres eröffne- ten Kaufhauses: »Lux«. Das Wort steht für jenen Luxus, nach dem neun Millionen Mos­kowiter und die drei Millionen Besucher der Stadt im »Gum« und »Zum« seit langem vergeb­lich gesucht haben. Nicht zu re­den von den Abermillionen in der Provinz; ganze 150 Kauf­häuser alten Stils gibt es im Land. Für das »Lux« soll der Wahlspruch gelten: »In einem neuen Kleid fühlst du dich wie neu und auf Flügeln.«

Und dies steht nicht, wie es früher gewesen wäre, auf einem Transparent zwischen Hammer und Sichel und unter einem Kopf von Lenin. Der Werbe­spruch wird, gut westlich, am Ende einer Modenschau gesun­gen, die täglich zweimal im »Lux« stattfindet. Dafür sind ein Dutzend Mannequins, zwei Tänzerinnen und ein Choreo­graph engagiert, und manchmal treten auch Popstars auf, die,

 

Moderne Medlen-Technlk furs Mode-Theater: »Lux«- Dlrektor Murat T. Gad­ginsky In dem fur 350 000 Rubel eingerichteten Vi­deo-Studio mit Kameras, Monitoren und Recordern

»WIR BRAUCHEN LEUTE, DIE BEGABT UND BESONNEN SIND«

MICHAIL GORBATSCHOW wie im Westen, modische Leit­bilder sind für die sowjetische Jugend.

 

Für das tägliche Mode-Thea­ter steht im »Lux« ein eigener Show-Room mit 250 Plätzen, Laufsteg und modernen Spot­lights zur Verfügung. Die Mo­delle paradieren vor einer riesi­gen Filmleinwand, auf der pfif­fige Video-Clips zu sehen sind. Hersteller: das Video-Studio des »Lux«, das Alexej V. Mali- nin als »Chef der technischen Reklameabteilung« für 350 000 Rubel mit Monitoren, Kameras und Recordern von Sony ausge­stattet hat.

Die Anfahrt zur Vitrine der sowjetischen Mode-Industrie dauert, von der Stadtmitte aus, eine halbe Stunde oder länger, und da nur elf Ladas und Mosk- witschs vor der griesig-grauen Betonfassade stehen, müssen die rund tausend Besucher mit der Metro zu dem ehemaligen Restaurant des Olympischen Dorfes gekommen sein. Das Gebäude hat den Charme jener optischen Attentate, die welt­weit mit dem Werkstoff Beton verübt worden sind, und die sechs Millionen Rubel Renovie­rungskosten haben nicht ausge­reicht, Schaufenster und damit Farbe in die Fassade zu kriegen.

Aber für Marmorfußböden haben sie gereicht, für Glasvi­trinen mit Pelzmänteln, für großzügig dimensionierte Po­deste und für Monitor-Säulen. Dort werden nonstop Video- Filme der Modenschauen von Yves Saint Laurent und Pierre Cardin aus Paris vorgeführt. Und die Schaufensterpuppen auf den Podesten tragen Klei­der und Anzüge, wie man sie in einem guten westlichen Kauf­haus sehen kann: nach Schnit­ten von Pierre Cardin, mit dem ein »Joint Venture« abgeschlos­sen ist; und Yves Saint Laurent steht in den Startlöchern.

Daß der Zustrom der Besu­cher

nicht abreiße, dafur sorgt die auch im Zeitalter der Pere­strojka unverzichtbare Plan­wirtschaft. Mehr als 30 Gewerk­schaften verteilen an ihre Mit­glieder Eintrittsbillets fur das »Lux«, und die tausend, die sich stundlich hineindrängen, wer­den mit der freundlichen Maxi­me empfangen: »Wenn Ihnen was nicht gefällt, so warten wir auf Sie, bis wir Ihren Wünschen gerecht werden.« Den meisten aber gefällt das Angebot, gefällt vor allem die Plastiktüte mit dem eleganten Sichelmond und dem Logo »Lux« - wer sie, gut gefüllt, mitnimmt, hat das, was von westlichen Reklame-Stra-

Staatsfcmsehen. Wer an die vielen gesparten Rubel will, die nicht ausgegeben werden, weil die Seligkeitsdinger erst allmäh­lich zu kaufen sind, braucht Marketing-ein Wort, das unser perfekt deutsch (aber nicht neu­deutsch) sprechender Dolmet­scher Nikita nie gehört hat.

Nicht nurim »Lux« wird Mar­keting geübt. Einzelne Kleider­fabriken halten in ihren Läden Modenschauen ab. Die Besu­cher können Modelle, die ihnen gefallen, ordern und nach zwei Wochen abholen.

Der Mode-Stratege Gadgin­sky verkauft den »besseren Ge­schmack« zu Preisen, die rund 30 Prozent höher liegen als etwa im »Gum«, auch wenn es böse Briefe in der »Prawda« gibt. »Mode muß teurer sein als Be­kleidung«, lautet sein Credo, »wir sind Zeitgenossen der Zu­kunft, unser Haus ist ein Vor­bild.« Dazu gehört auch die Qualität des »Service« - ein wei­teres Fremdwort im Sprach­schatz unseres Nikita, der sich am ersten Tag unseres Besuches noch sehr darüber wunderte, daß eine Frau sich morgens überlegen könnte, was sie abends anziehen soll, und bei einem Mann solch eine Über­legung als Verirrung abtat.

Was er dann im »Lux« zum erstenmal zu sehen bekam, ge­fiel ihm doch ganz gut. Ganz be­sonders, daß die Verkäuferin­nen mit ihren Kunden nicht mehr so umgehen, als wären sie mit dem linken Bein aufgestan­den. Nicht überraschend, weil die Mädchen in den hellblauen Nylonkitteln Erfolgsprämien kassieren. Jede Verkäuferin - es sind insgesamt 400, die in Schichten arbeiten - muß am Tag Waren im Wert von 2000 Rubel verkaufen, um den mo­natlichen Grundlohn von 125 Rubel und 25 Prozent Prämie für den Dienst an der vorder­sten Front der Perestrojka zu er­halten. Die meisten aber kom­men auf 250 Rubel, manche schaffen gar 400. Aus Italien im­portierte Computer der Firma Olivetti registrieren genau, wie­viel wer in welcher Zeit verkauft hat. Und eine Gruppcnleiterin, die sich von den hellblauen Kit­teln absetzt durch ein schickes dunkelblaues Kostüm mit Na­delstreifen, wacht darüber, daß die »Verkaufskultur« stimmt. Das heißt, daß die Mädchen nicht muckschen und nicht in der Ecke quatschen, während die Kunden Schlange stehen.

Eva Kniga trägt ein solches Kostüm und findet, daß dessen Eleganz eine schlechte Entschä­digung dafür ist, daß sie für ih­ren Chefposten schlechter be­zahlt wird als die an der Basis, die Verkäuferinnen, und auch an der Verkaufskultur hat sie etliches zu bemängeln. »Ist es nicht eine Schande«, sagt die 22jährige, »daß wir Computer angeschafft haben, um die Wa­ren rasch aus dem Lager zu ho­len und Schlangen an den Kas­sen zu vermeiden, und daß wir - aber schauen Sie nur.«

Überall dort, wo Blusen und Röcke und Pullover und Hem­den und Schuhe verkauft wer­den, haben sich lange Schlan­gen gebildet, und hinter Ab­sperrungsseilen drängeln sich Dutzende, manchmal Hunder­te, die geduldig warten, bis sie sich in die Schlange einreihen können. Da die Waren nicht in Regalen liegen und nicht an Ständern hängen, sondern nur Prototypen ausgestellt sind, müssen sie vom Computer nach Farbe und Preis aus dem Lager abgerufen werden. Erst dann kann die Anprobe beginnen und der Kauf sich ein gutes Stündchen hinziehen - und das Warten an der Kasse eine weite­re halbe Stunde.

Aber da es überall sonst noch langsamer zugeht in den Läden, hört man kein Murren. »Hier gibt es endlich auch die Dinge«, sagte die hinter dem Absperr- seil wartende Vierzigerin, »die für meine Kinder interessant sind.« Neben ihr steht eine jun­ge Dame, die ihre Tochter sein könnte, und lacht. Ihr ist das »Lux« noch nicht luxuriös ge­nug. Wenn sie Kosmetika braucht, geht sie in einen Be- rioska-Laden, in dem Lippen­stift, Lidschatten, Rouge oder Parfüm zum Beispiel von Dior gekauft werden können.

Als ich das Murat T. Gad­ginsky erzähle, wirft er drama­tisch die Arme hoch und ruft: »Aller Anfang ist schwer.« Und dann schaut er uns an und bittet, daß wir unseren Lesern sagen mögen: »Was wir für die Perestrojka machen, das tun wir mit größter Freude. Mit ei­ner Freude, die lange unbe­kannt war in unserem Alltag. Ich bin Geschäftsmann. Und die besten Beziehungen, die zwischen den Ländern herge­stellt werden können, sind die Beziehungen von Künstlern und von Geschäftsleuten. Wir müssen den Politikern ein Bei­spiel geben - damit unsere Kin­der und Enkel sich unserer eines Tages nicht schämen müssen.«

Das klang gar nicht einmal pathetisch. Jürgen kesting

 

Frauen sind die »Macher« der sowje­tischen Mode. Mit der Erfüllung des Plansolls ist es für sie nicht länger getan. Der STERN hat fünf von ihnen in Moskau besucht. Ihre Maxime:

PHANTASIE AN DIE MACHT

Lidia Orlowa, 51, Absol­ventin der journalisti­schen Fakultät der Mos­kauer Uni, arbeitete 16 Jahre Im Mode-Ressort der Frauenzeitschrift »Ra- botnlza« und Ist heute Chefredakteurin des »Journal Mod«, das In ei­ner Auflage von einer Mil­lion Exemplaren erscheint

 

600 000 sind abon­niert, 400 000 gehen an die Kioske und sind so­fort vergriffen. Sie Ist mit dem Schriftsteller Wla­dimir Orlow verheiratet

 

»MASSEN­MEDIEN, MACHTIGSTE BUHNE FUR GLASNOST«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Schöne und wertvolle Dinge sind ein sehr lästi­ger und störender Be­sitz«, schrieb der Kultur- Philosoph Egon Frie­deil, »weil sie die Kritik der Men­schen herausfordern, während man mit schlechten und billigen Sachen das ruhigste Leben der Welt führen kann.« Sollte dies die traurig-pessimistische Maxi­me sein, nach der in der UdSSR Mode gemacht wird? Richtiger: nach welcher die Menschen ein­gekleidet werden?

Vermutlich stellen wir uns das im Westen so vor, jedenfalls die meisten von uns. Kann das eine Haupt- oder gar eine Welt­stadt sein, in der so etwas wie der Schaufensterbummel unbe­kannt ist? Deren Alleen und Prachtstraßen nie und nie Lauf­stege sind für die Schönheit und die Eleganz? Vor deren Läden Menschen mürrisch in graue­stem Grau Schlange stehen?

Mit diesem düsteren Bild soll es bald vorbei sein. Und schon jetzt gibt es Leuchtpunkte in Moskau. »Mode ist Schönheit«, sagte Iwan Grizenko, der stellvertretende Minister für Leichtindustrie, im Gespräch mit dem STERN, »jeder möch­te schön sein und sich schön fühlen. Die Menschen sehnen sich danach. Wenn die Gesell­schaft sich nach vorn bewegt, braucht sie sichtbare Zeichen. Die Mode gehört dazu. Sie ist, als Gestaltung des Alltags, Politik.«

Neben Slawa Saizew, dem »roten Dior«, jahrelang eine Art von modischer Renom- mier-Figur, gibt es in der UdSSR viele Modetalente - vorwiegend Frauen. Auf dem zweiten Modefestival von Mos­kau im vergangenen November zeigten sie Kollektionen von internationalem Niveau und präsentieren inzwischen auch in München und Paris. Fünf Frauen, die Schwung in die sowjetische Mode bringen, hat der STERN in Moskau be­sucht. Sie berichten über ihre Mode-Arbeit zwischen lansoll und Phantasie, zwischen prak­tischen Notwendigkeiten und utopischen Ideen.

Ach, wenn es doch nur genü­gend Papier geben würde. Sie würde ihr Heft in einer Auflage von »mindestens zehn Millio­nen Exemplaren herausbrin­gen«. Naturlich monatlich. »Mode lebt vom raschen Wech­sel«, sagt Lidia Orlowa, »und wir verspaten uns immer noch allzu oft. Das laßt sich durch Politik allein nicht andern. Aus der Mode spricht der Zeitgeist, Nina Pokorskaja, 51, studierte ökonomln, Ist Generaldlrektorln der Kostüm-Mantel-Fabrlk »Saljut«, setzte Im ver­gangenen Jahr 157 Mil­lionen Rubel um, absol­vierte ein Fernstudium der Technologie, Ist Trägerin des »Rotbannerordens der Arbeit« und Deputier­te ln Ihrem Stadtbezirk. Sie Ist In zweiter Ehe ver­heiratet, hat zwei Kinder

 

»WO EIN GUTER LEITER ARBEITET. STELLT SICH ERFOLG EIN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Ludmilla Slnjuta, 50, Ist Textlllngenleurln und als stellvertretende Leiterin für Konfektion Im Mini­sterium für Leichtindu­strie verantwortlich für Planung und Produktion der Bekleidungsindu­strie. Als Mitglied der »Ästhetischen Kommis­sion« entscheidet sie, aus welchem Modell spä­ter wirklich Mode wird

»FRAUEN INDIE WIRTSCHAFTS­ FÜHRUNG EINBEZIEHEN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

story« ein Moskauer Architek- ten-Ehepaar vor, das sich eie gant kleidet und seine Wo nung mit Kiefernholz-Einbau- küche und Knautsch-Sofa mo­dern eingerichtet hat.

Ihre Zeitschrift, die vom Ministerium für Leichtindustrie herausgegeben wird, sieht Li dia Orlowa »als Instrument der Meinungsbildung« und als Bo­tin eines neuen, liberalen und fröhlicheren Lebensgefühls. Sie hätte freilich schwer predi­gen, gäbe es nicht Frauen von der Art der Nina Pokorskaja, die, ganz wie ein westlicher Mo- de-Produzent, nach der Maxi­me arbeitet: »Mit Mode müssen wir Profit machen.« Die 51jäh- rige, in der Fabrik liebevoll »unser Boss« genannt, leitet zwei Konfektionsbetriebe in Moskau und Torschok, ist Che­fin von 3000 Mitarbeitern und hat 1987, dem Jahr 1 der ökono­mischen Selbstverantwortung, eine Million Mäntel und Kostü­me fabriziert, damit einen Um­satz von 157 Millionen Rubel und einen Gewinn von 37 Mil­lionen Rubel gemacht.

Davon hat sie 89 Prozent an den Staat abführen müssen. Aber es blieb immer noch ein passabler Rest für den Sozial- Fonds des Betriebes und für den Ankauf von Nähmaschinen aus der Bundesrepublik, für jene überfälligen Investitionen also, die allein zu einer Verbes­serung der Fertigung führen können. Der Markenname »Saljut« auf den Etiketten ihrer Kleidung bürgt in der UdSSR für die beste Qualität heimi­scher Produktion. Nina führt »Vorzugsbetriebe«, kann sich bei der Wahl der Stoffe die aus reiner Wolle aussuchen, darf ihre Techniker jährlich zu einer Schulung nach München schik- ken und bezieht seit drei Jah­ren aus der Bayern-Metropole Schnitte vom renommierten Mode-Haus Lodenfrey. »Das ist viel«, sagt sie, »aber längst nicht genug«, und auf die Fra­ge, was ihr denn noch fehle zum unternehmerischen Glück, er­widert sie: »Noch bessere Stoff­qualitäten und vor allem - Knöpfe, viel mehr Knöpfe.«

Sie wird in der Tat noch mehr Knöpfe und Schnallen brau­chen, wenn erst die Sowjetbür­ger alle Jahre einen neuen Man­tel oder einen neuen Anzug kaufen können statt alle drei wie bisher. Mit dem Riesen- Problem der »Kapazitäts-Stei­gerung« muß sich Ludmilla Sin- juta herumschlagen. Die 50jäh- rige Textilingenieurin, seit 29 Jahren in der Produktion und in ihr spiegelt sich ein Lebens­gefühl. Für Mode muß man werben, indem man über sie informiert.«

Die 51jährige, im kniefreien schwarzen Rock und leuch­tend roten Jacquard-Pullover, ist seit Dezember 1986 Chef­redakteurin des »Journal Mod« - mit einer Auflage von einer Million das größte Mode- Magazin der UdSSR. Vier Jahrzehnte lang wurde es schwarzweiß und nur alle drei Monate gedruckt und hatte so viel Charme wie die Postwurf sendungen billiger Versand­häuser.

Seit Ende Februar erscheint das Journal sechsmal im Jahr, Umfang 82 Seiten, mit 32 Sei­ten in Farbe, technisch erst­klassigen Fotos und vor allem mit journalistischem Appeal. Lidia, kein Zweifel, hat in die Welt und in die »Vogue« ge­schaut, begnügt sich nicht mehr nur mit der Erläuterung von 45 Schnittmustern, son­dern zeigt Designer-Mode aus der UdSSR, die Schaufenster der Pariser Couturiers, präsen­tiert das Neueste von Armani und Saint Laurent oder führt, ein absolutes Novum für die UdSSR, mit einer »Home-an die Hauswand geschrieben. Der rohe Putz im Treppenhaus löchrig, und der Fahrstuhl läßt unseren Fotografen schaudern: »Abwärts«, sagt er, »kannst du so klettern wie Götz George in dem Absturz-Krimi?«

Wir steigen fünf Stockwerke hinauf, einen sechsten gibt es nicht. Wir suchen Namensschil­der, finden keine und schellen an einer der beiden Türen. Ein mürrischer Mann öffnet. Er trägt eine dicke Jacke und eine Pelzmütze und hat offenbar zu­sätzlich mit Wodka gegen die Kälte geheizt. Nikita, unser Dolmetscher, fragt nach Katja. Der Mann wird noch mürrischer und murmelt irgendwas. Nikita drückt auf den Knopf und holt den Fahrstuhl vom Erdgeschoß nach oben. Der hat an seiner Rückseite eine weitere Tür, durch die man in den hinteren Teil des Hauses gelangt. Noch einmal eine Treppe. Wir sind unterm Dach und sehen eine Klingel an gefährlich aussehen­den, nicht isolierten Drähten.

Die Tür öffnet sich, und der Raum, den wir betreten, ist ein Loft ä la Moskau. Rohe Wän­de mit bunten Plakaten und moderner Malerei, Stühle mit aufgeplatzten Plastiksitzen und herausquellendem Schaum­gummi, ein alter, verfleckter und verkrümelter Küchentisch mit grüner Plastikdecke, auf dem Boden eine Matratze mit            einem     verkrumpelten Bezug. Von der Decke

 

Vor sieben Jahrzehnten entwarfen »Futuristen« und »Konstruktivisten« Kleider für den »Menschen der Zu­kunft«. Jetzt werden ihre Ideen von MoskausAvantgardistenaktualisiert

VORWARTS INS GESTERN

 

Modischer Überflieger: Der 20jährlge Georgij (Goscha) Ostrjezow ist fasziniert von den Futuri­sten der zwanziger Jahre und liebt die große Pose. Seine Brille mit dem Pro­pellerflugzeug Ist nicht nur zum Sehen da, sie soll auch gesehen werden

 

»NEUE, UNORTHODOXE LÖSUNGEN FINDEN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Ikone Im Schnee: »Die Christianisierung Ruß­lands« nennt Katja Flllp- powa, 27, Ihr aus schwar­zem Plastik und löcheri­ger Spitze kombiniertes Phantasie-Kostüm. Da­neben, wieder als Meister der Allüre, Goscha In ei­nem alten Ambulanzwa­gen aus den 30er Jahren

»DIE JUNGEN MÜSSEN FREI SEIN VON KLEINLICHER OBHUT«

MICHAIL GORBATSCHOW

Weltschmerz Im Winter: Der Architekt Anton Mo­sin, 23 und Ehemann von Katja Mlkulskaja, Im ro­mantischen Look mit wei­ter, pludrlger Hose aus schimmerndem Jacquard undSmoklngJacke. Jelena Chudjakowa, 30, hat für Ausstellungen Avantgar­de-Kleider Ihres Vorbildes Warwara Stepanowa aus den zwanziger Jahren In Leinen rekonstruiert. Neben Ihr ein Sowjetsol­dat in echter Uniform

 

»UNSERE LEHRER SIND DAS LEBEN UND DIE ZEIT«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Warten auf den Frühling: An einer langen Strippe trägt Katja Mlkulskaja Ih­ren Ohrschmuck, eine Schleife aus Glanz-Folie.

Mit Ledermütze voller Glasklunker und Halsket­te aus echten Patronen­hülsen: Katja Fllippowa

 

»TRÄGHEIT UND KONSERVATIVISMUS UBERWINDEN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

hängt eine nackte Glühbirne. Hier sieht es nicht anders aus als bei den experimentellen Mode- Machern in Paris oder London auch.

Und in diesem Künstler-Pa­radies kommt uns ein blasses schmales Mädchen in einem lan­gen. engen, schwarzen Kleid entgegen, ein grünes Tuch wie eine Schärpe um die Hüften ge­schlungen . ln der Ecke steht ein blasser junger Mann mit bren­nenden Augen, deren dunkles Braun von langen, fein ge­schwungenen Brauen betont wird. Die Haare sind im Nacken und über den Ohren ausrasiert. Die dunkle Hose wird von brei­ten Trägern gehalten, die von ei­ner knappen Weste nicht ver­deckt werden. An den hohen Fenstern, die bis zum Boden rei­chen .lehnt eine sommersprossi­ge Schönheit mit der rarsten al­ler Haarfarben, dem hellen Rostrot Tizians. Neben ihr zwei Kleidersäcke, vollgestopft mit Unikat-Modellen.

Das also soll das kreative Nest von Moskaus modischer Avant­garde sein? Die Antwort auf westliche Mode-Exzentriker wie Jean Paul Gaultier oder kühne Eklektiker wie Christian Lacroix? Wie seltsam und wie ir­ritierend - aber nur, wenn man seine westlichen Vorstellungen auch in Moskau verwirklicht se­hen möchte. Was heute im We­sten »Avantgarde« genannt wird, ist längst keine Bewegung mehr mit dem Ziel: »Epater le bourgeois - den Bürger er­schrecken.« Die avantgardisti­sche Aufsässigkeit ist längst in den Mahlstrom der Mode einge­leitet. Der Schock von heute ist morgen schon der neue Schick und übermorgen eine alte Ma­sche.

Moskaus Avantgardisten ar­beiten, anders als ihre westli­chen Kollegen, in einer Art von Niemandsland. Sie haben nicht einmal den Zugriff auf das Material, das sie für ihre Ideen benötigen würden - auf Stoffe, Leder, Wolle, Nähgarn und selbst Knöpfe. Ihre Arbei­ten finden bisher kaum Wider­hall in den Medien, in den Zei­tungen, im Fernsehen. Sie ar­beiten fast ohne Öffentlichkeit und ohne die Public Relations, die Öffentlichkeit herstellen könnten.

Es ficht sie nicht an. Katja Fi- lippowa und ihre jüngere Freun­din, die 22jährige Katja Mikuls- kaja, wollen nicht in Fabriken Kittel für Verkäuferinnen. Ar­beitskleidung, Standard-Anzü­ge und Wintermützen entwer­fen. »Mode soll der Phantasie folgen«, sagt Katja Filippowa, »nicht bloß den Fünfjahresplan erfüllen.«

Ihren Job als Buch-Graphi­kerin hat sie aufgegeben, und auch die Architektur-Studentin Katja II. will nur noch eigenes Design machen. Seither fehlen ihnen die 200 Rubel, die sie in ihren Lehrberufen verdient hatten, bitter. Das Geld, das sie gelegentlich von Freundin­nen oder Freunden für ihre ex­travaganten Entwürfe erhal­ten, reicht nur für ein Leben von der Hand in den Mund, kaum aber für Werkstoffe und Lässig Im Alltag: Für Ihre Altersgenossen haben die Avantgarde-Designer bunte Westen, bequeme Jacken und phantaslevoll bemalte Hemden entwor­fen. Noch werden solche ausgefallenen Sachen nur als Unikate verkauft

»NICHT VERZAGEN; SUCHEN SIE NACH EINEM WEG«

MICHAIL GORBATSCHOW schon gar nicht für edle Mate­rialien, die sie in mühsam ergatterten Ausgaben der »Vogue« bewundern.

Doch wie immer sind es die Handikaps, von denen sich die Begabten, die Phantasie vollen, die von ihrem Talent Überzeug­ten zu erhöhten Anstrengungen anspornen lassen. Kein Stück­chen Stoff, kein Fetzen Plastik, kein Rest von Kupfer-Blech, aus dem nicht ein kleines Kunst­werk zu machen wäre. Aus einer schwarzen Plastik-Folie, Tüll, durchlöcherten Handschuhen und allerlei Plunder hat Katja

Filippowa ein bizarres Kostüm stilisiert, mit dem sie die »Taufe Rußlands« zelebrieren will. Ein anderes heißt »Roter Platz« und sieht auch so aus.

Der bleiche Jüngling mit dem Raskolnikow-Gesicht, Georgij »Goscha« Ostijezow, zitiert auf seinen mit bunten Stoffar­ben bemalten weißen Hemden Hammer und Sichel, die Zei­chen und Chiffren der Politik, um »Reklame zu machen für den sozialistischen Alltag«. Der 20jährige hat eine »Kosmische Uniform« entworfen und eine Brille, an deren Gestell, nach dem Vorbild der Konstruktivi- sten, die Flügel eines Flugzeugs befestigt sind. Für ein »Revolu­tionskleid« hat sich Katja Mi- kulskaja mit dem tizianfarbenen Schopf einen alten, roten Wol­kenstore mit Fransen um die Hüften gewickelt.

Sie alle machen Kleider, die Kostüme sind und sich für eine Serienfertigung nicht eignen. Es sind Kleider-Träume von Phan­tasten, die aus den Normen des Alltags ausbrechen - und die vielleicht, wenn eines Tages ge­fördert, der Mode ihres Landes Impulse geben können, wie es einst, in den zwanziger Jahren, die Futuristen und Konstrukti- visten taten.

Deren Arbeiten kommen in­zwischen wieder zu Ehren. Das zeigen die Entwürfe der 30jähri- gen Jelena Chudjakowa, die sich als Mitglied der Jugendver­einigung der Künstler zu den Avantgardisten hingezogen fühlt. Sie hat zunächst an der Hochschule für Architektur In­neneinrichtung studiert und vor einigen Jahren im Auftrag des Ministeriums für Kultur Mo­dell-Kleider der großen Warwa- ra Stepanowa rekonstruiert. Sie sind im Museum of Modem Art in Oxford gezeigt worden, in ei­ner jener Ausstellungen, mit de­nen die Konstruktivistinnen der russischen Avantgarde in den letzten Jahren international ge­feiert und rehabilitiert wurden. Vielleicht gibt es jetzt eine Hoff­nung, daß der eigentlich roman­tische Traum jener Künstlerin­nen von der Vereinigung von Mode, Leben und Produktion sich im Zeitalter der Perestrojka durch die junge Mode-Garde er­füllen könnte.

Lidia Or³owa, Chefredakteu­rin des »Journal Mod«, der größten Modezeitschrift, ver­liert diese Jungen nicht aus den Augen: »Das sind unsere gro­ßen Hoffnungen, ich werde ihre Arbeiten in meinem Blatt in Zu­kunft begleiten.«

JÜRGEN KESTiNG

 

Belm Moskau-Besuch des baden-württembergi­schen Ministerpräsiden­ten Lothar Späth Unter­zeichnete Salamander- Exportdirektor Werner Rost (sitzend, links) be­reits das zweite Joint Venture für die Schuhflr- ma. Im Hintergrund beim Handschlag:               Salaman-

der-Chef Franz Josef Dazert mit Wladimir Klju- Jew, Minister für Leichtin­dustrie der Sowjetunion

»VQN DEN FRUCHTEN DER UMGESTALTUNG PROFITIEREN DIE INTERNATIO­NALEN BEZIE­HUNGEN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Abnehmern im In- und Ausland umsehen.

Sie können ihre Geschäfte selbständig abwickeln.

Sie können, wenn sie denn Devisen haben, Maschinen, Rohstoffe und Zubehör in eige­ner Regie im Westen einkaufen.

Noch lebt der geplante Um­bau mehr von der Hoffnung als von konkreten wirtschaftlichen Erfolgen. »Aber Perestrojka ist unsere einzige Chance«, sagt Raissa Sawina. »Es wäre aller­dings naiv zu glauben, wir könn­ten unsere Probleme von einem auf den anderen Tag lösen.« Tatsächlich dürfte es noch eine Weile dauern, bis sich die »indu- striell-materielle Basis« in den Fabriken spürbar verbessert hat. Mit einem schnellen An­stieg des Lebensstandards rech­net also kaum jemand. »Die Re­formen«, glaubt Gorbatschows Wirtschaftsberater Abel Agan- begjan, »sind auf sehr, sehr lan­ge Sicht geplant.« Doch der Va­ter der Perestrojka, Michail Gorbatschow, fordert: »Wir ha­ben einfach nicht das Recht, uns auch nur einen Tag auszuruhen. Im Gegenteil, mit jedem Tag müssen wir uns mehr anstren­gen, das Tempo erhöhen.«

Was den Umbau beschleuni­gen könnte, ist eine intensivere Zusammenarbeit mit dem We­sten. Doch noch stecken die Sowjets in einem Teufelskreis, der nur schwer aufzubrechen ist: Um im Westen Maschinen kaufen zu können, die zur Stei­gerung von Qualität und Quan­tität dringend nötig sind, brau­chen die sowjetischen Betriebe Devisen. Aber Deutsche Mark, Dollars oder Schweizer Fran­ken können nur dann einge­nommen werden, wenn Mäntel, Kostüme, Hosen, Blusen oder

Hemden exportiert werden. Und wer auf den hart umkämpf­ten kapitalistischen Märkten bestehen will, muß nicht nur Mode anbieten, sondern auch Menge liefern.

Beinahe ebenso wichtig ist, die sowjetische Mode geschickt zu vermarkten. Kaum eine Branche im Westen betreibt so viel Werbung wie die Beklei- dungs- und Modeindustrie. Doch Werbung in diesem Um­fang ist den Sowjets bislang noch fremd. Auch das soll sich än­dern: Am 28. Januar hat das Po­litbüro des Zentralkomitees der KPdSU die Vorschläge der Re­gierung der UdSSR analysiert und »tiefgreifende Veränderun­gen« im Bereich der Werbung gefordert, vor allem »für Wer­bung sowjetischer Produkte im Ausland«. Auch andere Ver­kaufsstrategien, die sich hinter dem Begriff »Marketing« ver­bergen, sollen angekurbelt wer­den: die Organisation effizien­ter Vertriebswege etwa und die Einführung und Propagierung von Markennamen.

Einige der großen Konfek­tions-Betriebe, wie die Mantel- und Kostümfirma »Saljut«, ver­kaufen bereits mit Marken-Eti- kett. Und schon seit Januar

gibt es Mode mit Desi- gner-Labels führender sowje­tischer Klavier-Macher wie Alexandr Igmand, Irina Kruti- kowa, Tamara Makejewa, Tat­jana Osmjorkina (siehe Seite 114 bis 125), Irina Gusinkina und natürlich Slawa Saizew, dem »Dior« der Sowjet-Mode.

»Wir müssen die Vorausset­zungen für die Steigerung unse­rer Exporte erst noch schaffen«, sagt Margarita Maximowa, Pro­fessorin am Moskauer Institut für Weltwirtschaft und interna­tionale Beziehungen, »und wir müssen die Exporte durch Han­delsverträge mit der EG und an­deren westlichen Ländern lang fristig absichem.«

So verhandeln die Sowjets derzeit in Genf über den Beitritt zum internationalen Zoll- unc Handelsabkommen Gatt unc wünschen sich zudem besser« Beziehungen zur Europäischer Gemeinschaft. Denn auch da mit haben die sowjetischen Be kleidungshersteller zu kämp fen: Die EG billigt ihnen für ihre Produkte bislang nur geringe Einfuhrquoten zu. Der Grund: In den Jahren vor dem großer Umbau waren die Sowjets am Export in westeuropäische Län­der nicht sonderlich interes­siert. Sie nutzten nicht einmal die Quoten, die ihnen einge­räumt wurden. Heute hätten sie gern mehr. Immerhin können sie darauf hoffen, daß es noch in diesem Jahr grünes Licht für größere Mengen gibt.

Die sowjetischen Manager versuchen jetzt, ihre Betriebe neu zu organisieren und effi­zienter zu arbeiten. Sie setzen, wie bereits im Bereich der Schuhindustrie, auf verstärkte Kooperation mit westlichen Fir­men, auf Lizenzabkommen, die schon mit Pariser Modema- chem wie Pierre Cardin und Yves Saint Laurent bestehen (siehe Seite 132 bis 139 und Seite 183), und vor allem auf Joint Ventures.

Wie die Gemeinschaftsunter­nehmen mit den Kapitalisten zu organisieren sind, hat der Mini­sterrat der UdSSR präzise fest­gelegt und dabei für Begriffe wie »Kapital« und »Gesellschafter«

in der amtlichen sowjetischen Terminologie immer noch Reiz­vokabeln - die unverfänglichen Bezeichnungen »Statutenfond« und »Teilnehmer« erfunden. Die Sowjets legen Wert darauf, mit mindestens 51 Prozent am »Statutenfond« der Gemein­schaftsunternehmen beteiligt zu sein und sowohl den Vorstands­vorsitzenden als auch den Gene­raldirektor zu stellen.

Freilich sind die Sowjets nicht nur an Kapital interessiert (Margarita Maximowa: »Das könnten wir auch in der Bevöl­kerung mobilisieren«), minde­stens ebenso gefragt sind Ma­nagement-Qualitäten und west­liche Technologie. Etwa das Know-how von Salamander, denn die Versorgung mit gutem Schuhzeug ist ein drückendes Problem.

Das Kornwestheimer Unter­nehmen war die erste bundes­deutsche Firma, die sich auf das Abenteuer eines Joint Venture in der UdSSR einließ. Ende März soll das Gemeinschaftsun­ternehmen »LenWest« in Le­ningrad die Produktion hoch­wertiger Damen- und Herren­schuhe aufnehmen; für ein zwei­tes Unternehmen - »BelWest« in Witebsk in der weißrussi­schen Sowjetrepublik - sind die Verträge unter Dach und Fach. Zudem soll Salamander für die Sowjets komplette Schuhfabri­ken bauen, über weitere Koope­rationsmöglichkeiten wird der­zeit gesprochen.

Salamander-Vorstand Franz Josef Dazert ist über die Ver- -handlungsführung und die Fle­xibilität seines Leningrader Partners »Proletarischer Sieg« und der neuen Kollegen im Wi- tebsker Schuhkombinat »Roter Oktober« des Lobes voll: »Da wurde auf alle Fragen eine prag­matische und zufriedenstellen­de Antwort gefunden.«

Dazert. in Ost-West-Ge- schäften ein alter Hase, ist si­cher. daß »LenWest« bis 1990 die Produktion auf drei Millio­nen Paar Schuhe jährlich schrauben kann - für den sowje­tischen Binnenmarkt und für den Export. Allerdings weiß der Kornwestheimer Unterneh­mer, daß bis dahin noch viel zu tun ist: In einem sorgfältigen Ausbildungsprogramm werden die sowjetischen Mitarbeiter von deutschen Schuhspeziali­sten geschult, und um westli­chen Qualitätsansprüchen zu genügen, wird »LenWest« der­zeit mit modernsten bundes­deutschen Maschinen ausge­stattet. Er habe einfach die rich­tige Nase gehabt, sagt Dazert, der im Troß seines Duzfreun­des Lothar Späth vergangenen Monat selbst Parteichef Gorba­tschow seine Aufwartung ma­chen durfte.

Eine feine Nase, so scheint es, haben auch die Sowjets: Sie können nämlich darauf hoffen, daß ihnen der agile 63jährige die Exportwege nach Westen eb­net. wenn es um andere Produk­te als um Schuhe geht. Denn die Salamander AG ist auch im Ge­schäft mit Textilien aktiv, das inzwischen immerhin schon mehr als ein Drittel des Jahres­umsatzes von 1.2 Milliarden Mark bringt. Da wäre es doch ein Wunder, wenn die Deut­schen den Sowjets nicht bei der Vermarktung ihrer Mode in der Bundesrepublik und im westli­chen Europa auf die Sprünge helfen könnten.

Der erste Schritt ist schon ge­tan: Bereits im Oktober vergan­genen Jahres hat sich »Salimex

STERN: Herr Minister, in der Leichtindustrie der Sowjet­union arbeiten zahlreiche Be­triebe schon im zweiten Jahr nach dem Prinzip der Selbstfi­nanzierung, seit dem 1. Januar

alle. Mit welchen Ergeb­nissen?

GRIZENKO: Für konkrete Er­gebnisse ist es noch etwas zu früh, schließlich muß sich jeder Arbeiter, jeder Ingenieur, jeder Betriebsleiter erst auf die neuen Wirtschaftsprinzipien einstel­len. Früher wurde den Betrie­ben von den Planungskomitees vorgeschrieben, was sie zu pro­duzieren hatten, heute richtet sich das Angebot nach der Nachfrage. Liegen die Betriebe mit ihrem Sortiment falsch und können ihre Produkte nicht verkaufen, dann gehen sie pleite. In diesem Punkt unter­scheiden sich die neuen Be­dingungen hier also kaum noch von den Wirtschaftsmechanis­men im Westen. Wir können zwar nicht sicher sein, daß wir schon jetzt alle Fehler beseitigt haben, die uns früher in unserer Entwicklung gebremst haben, aber auf jeden Fall haben wir diese Fehler erkannt. STERN: Welche Fehler sind es gewesen, die der Leichtindu­strie und vor allem der Beklei­dungsindustrie zu schaffen machten?

GRIZENKO: Zur Leichtindu­strie gehören 29 verschiedene Industriesparten: die Tuch- und Bekleidungsindustrie, die Le­der- und Kunstlederindustrie, Wollwebereien, die Seidenin­dustrie und die Schuhindustrie, um nur einige zu nennen. In den meisten Fabriken ist in den ver­gangenen Jahren nicht genug in­vestiert worden. Die technische Ausstattung ist folglich nicht auf dem neuesten Stand, und es gibt oft Probleme mit der Qualität der Produkte. Deshalb sind die beiden Schwerpunkte der Pere­strojka in der Leichtindustrie er­stens die Verbesserung der Qualität und zweitens die Stei­gerung der Produktivität. STERN: Wie funktioniert denn nun die Selbstfinanzierung? Können die Betriebe selbst ent­scheiden, was mit ihren Gewin­nen geschieht, oder sind sie wei­terhin an Weisungen des Mini­steriums gebunden? GRIZENKO: Ein Teil des Gewin­nes geht an den Staat, ähnlich wie im Westen, wo die Unter­nehmen ja Steuern zahlen. Dann muß der Betrieb natürlich seine Bankverbindlichkeiten

STERN-Intervlew mit Iwan G. Grlzenko, dem Vlzemi- nlster für Leichtindustrie, zu der auch die Beklei­dungsindustrie und die Schuhproduktion zählen

 

»TOP-MODE FÜR JEDE SAISON«

 

decken. Der Rest schließlich muß in bestimmte Fonds einge­zahlt werden, in einen Fonds für Soziales, in einen Fonds für künftige Investitionen und in ei­nen Fonds, aus dem Lohnerhö­hungen finanziert werden. Das ist vorgeschrieben; allerdings kann der Betrieb nach Abstim­mung mit den Arbeitern selbst entscheiden, wie groß die An­teile für die einzelnen Fonds sind.

STERN: Offensichtlich wissen zahlreiche Betriebe mit den neuen Freiheiten nichts anzu­fangen.

GRIZENKÖ: Ich muß zugeben, viele Betriebe haben das noch nicht begriffen. Aber die mei­sten wissen doch, daß die Selbst­finanzierung und die neuen Freiheiten im Interesse ihrer Belegschaft liegen, und richten sich danach. Das kann man dar­an sehen, daß sich in diesen Be­trieben die Einzahlungen in die Fonds inzwischen verdoppelt haben.

STERN: Und wie ist es mit der Preisgestaltung in den Betrie­ben, welche Funktion haben jetzt noch Planvorgaben in der Leichtindustrie?

GRIZENKO: Geplant wird künf­tig nur noch von unten nach oben. Die Betriebe planen ihre Investitionen und die Produk­tionsmengen selbst und melden sie den übergeordneten Behör­den. Das staatliche Planungsko­mitee Gosplan kann dadurch feststellen, ob die betrieblichen

in der Summe mit den gesamt­wirtschaftlichen              Planungen II

übereinstimmen    und wo Schwerpunkte der Entwicklun zu setzen sind. Im übrigen sind die Betriebe in ihren Entschei­dungen völlig frei, was die Preis­gestaltung betrifft, was die Inve stitionen betrifft, wo sie sich ihre I Rohstoffe beschaffen, und zum | Beispiel in der Bekleidungsin dustrie, was die Kollektionen j betrifft, die sie anbieten. Ent' scheidend dafür ist ausschließ lieh die Nachfrage.

STERN: Die Preise für Bekle dung werden aber doch von j staatlichen Stellen kontrolliert. GRIZENKO: Das gilt nur für die ] sogenannten ständigen Preisi fürGrundprodukte. Die werden | vom staatlichen Preisbildung komitee festgelegt und kontrol­liert. Für Produkte aber, deren | Qualität besonders hoch isi können die Betriebsleiter selbst j mit den Kaufhäusern die Preisi aushandeln, das Preisbildung komitee muß dann nicht eing schaltet werden.

STERN: Woher kriegen die B triebe die notwendigen Infoi mationen über die Nachfraj über Mengen und Trends? In der Sowjetunion gibt es schliel lieh keinen funktionierenden Markt wie im Westen, der den Unternehmen Angebots- und Nachfragegrößen signalisiert. GRIZENKO: Für die Besti mung der Nachfrage haben wir hauptsächlich drei Quellen, stens die Forschungsinstitut! die sich mit der Konjunktur fassen. Zweitens hat jeder gri ßere Betrieb firmeneigene Ge­schäfte. in denen die eigenen Produkte verkauft werden. Da wird unmittelbar deutlich, was gefragt ist und was nicht. Au­ßerdem verhandeln die Betrie­be jetzt, in dem neuen Wirt­schaftssystem, selbst über ihre Kollektionen mit den Kaufhäu­sern. Und die kennen die Wün­sche der Verbraucher natürlich ganz genau.

STERN: Die Verbraucher for­dern ja vor allem modische Be­kleidung besserer Qualität, die ihnen die sowjetischen Betriebe jedoch nicht bieten können. Wie wollen Sie diese Unterver­sorgung beseitigen? GRIZENKO: Wir werden künf­tig sehr viel produktiver arbei­ten müssen, und wir hoffen, das mit dem wirtschaftlichen Um­bau auch zu erreichen. Das ist ja der Sinn der ganzen Pere­strojka. Und wir wollen den Verbrauchern auch modische Kleidung anbieten. Früher wurden bei uns nur sehr lang­fristige Modetrends entwickelt, künftig wird es in jeder Saison Top-Mode geben, so wie es bei Ihnen üblich ist.

STERN: Nun klagen aber viele Betriebe über Rohstoffmangel, zudem fehlt es an modernen Maschinen. Wie sollen die in ausreichenden Mengen modi­sche Bekleidung herstellen, da­zu in guter Qualität? GRIZENKO: Unser Ministerium wird derzeit sehr stark kritisiert, weil wir die Versorgung der Bevölkerung nicht in dem gewünschten Umfang decken können. Das heißt aber nicht, daß unsere Betriebe schlecht ar­beiten. Es ist einfach so, daß mit der Perestrojka die Anforde­rungen gewachsen sind, und der vorhandene Bedarf soll jetzt plötzlich von einem auf den an­deren Tag gedeckt werden. Wir setzen allesdaran, damit sich die Lage schnellstens bessert. STERN: Wie zum Beispiel? GRIZENKO: Sehr viel hängt von der Maschinenausstattung der Betriebe ab. Deshalb haben verschiedene Ministerien jetzt eine gemeinsame Organisation gegründet, die den Ausbau der industriellen Basis in der Leichtindustrie vorantreiben soll. Nicht zuletzt aber suchen wir die Zusammenarbeit mit westlichen Firmen, die uns im Rahmen von Joint Ventures technisches Know-how und hochmoderne Textilverarbei­tungsmaschinen liefern.

STERN: Auf die Bedeutung der Zusammenarbeit mit dem We­sten wird im Zusammenhang mit Perestrojka immer wieder hingewiesen. Welche Formen der Kooperation haben für die Leichtindustrie Vorrang? GRIZENKO: Das kann ich nicht eindeutig beantworten. Das liegt in der Verantwortung der Betriebe. Die wenden sich, so­bald sie stark genug sind, selbst an ausländische Unternehmen, um ein Joint Venture zu grün­den, Maschinen zu kaufen oder nach einer anderen Form der Zusammenarbeit zu suchen. Daß wir den Joint Ventures ei­nen hohen Stellenwert einräu­men, wird vielleicht daran deut­lich, daß diese Betriebe in den nächsten Jahren keine Steuern zu zahlen brauchen.

STERN: Die sowjetischen Be­kleidungsfabriken hoffen, über kurz oder lang mit dem Westen lukrative Geschäfte machen zu können. Welchen Stellenwert hat für sie der Export? GRIZENKO: Das ist für unsere Betriebe natürlich ein wichtiger Punkt. Die Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung zielen ebenso darauf hin wie unsere Lizenzpolitik und die Joint Ventures. Dazu müssen noch politische und administrative Probleme gelöst werden. Wir werden uns auf jeden Fall an­strengen, im Exportgeschäft voranzukommen.

STERN: Einmal angenommen, die sowjetischen Betriebe sind im Export erfolgreich. Besteht dann nicht die Gefahr, daß zu­nächst für den ausländischen Markt produziert wird, weil das harte Devisen bringt, und die Unterversorgung in der Sowjet­union bestehenbleibt? GRIZENKO: Nein, diese Gefahr besteht nicht. Unsere Anstren­gungen zielen ja nicht nur auf die Verbesserung der Qualität, wir werden künftig auch die Quantität der Produktion stei­gern. Die Kritik, die Sie äu­ßern, ist gelegentlich auch bei uns zu hören. Es braucht aber niemand zu fürchten, wir wür­den alles an das Ausland ver­kaufen. Wir werden zunächst alles tun, um die sowjetischen Verbraucher mit modischer Kleidung in guter Qualität zu versorgen.

Import Export«, eine Tochter­gesellschaft der Salamander AG, mit dem Moskauer Star- Designer Slawa Saizew zusam­mengetan und den Markenna­men »Saizew Fashion« für den EG-Markt schützen lassen (sie­he STERN Nr. 40/1987). Nun soll unter diesem Designer-La- bel die Produktion von Lizenz­produkten wie Textilien, Acces­soires und Parfüm anlaufen. Die Verträge sind unterschriftsreif und sollen Ende März unter Dach und Fach sein, wenn Sai­zew auf der »Modewoche Mün­chen« zum zweitenmal seine Moden aus Moskau präsentiert.

Doch Dazert denkt nicht nur ans eigene Unternehmen: An Swetlana Komewa, Generaldi­rektorin der Strickwarenfabrik »Kiewljanka« in Kiew, vermit­telte er eine freie Designerin aus der Bundesrepublik. Die ent­warf in drei Wochen an Ort und Stelle eine exportreife Pullover- Kollektion.

Auch Nina Pokorskaja, Ge­neraldirektorin der Mantel- und Kostümfabrik »Saljut«, setzt auf Geschäftsverbindun­gen mit dem Westen. »Ihre« beiden Fabriken - eine in Mos­kau, eine in Torschok, nördlich von Moskau - werden gerade vollständig mit bundesdeut­scher Technik ausgestattet. Insgesamt 2860 »Saljut«-Mit- arbeiter nähen, säumen und steppen künftig an modernen Dürrkopp-Maschinen und bringen damit ihre Mäntel auf westliches Qualitätsniveau.

Die energische Generaldi­rektorin ist fest davon über­zeugt, daß sich sowjetische Kon­fektionäre schon bald mit west­lichen Kollegen messen kön­nen. Die neue Selbständigkeit mache die Betriebe flexibler, und die Mitarbeiter würden sehr viel sorgfältiger und produkti­verarbeiten. Die Zeiten zentral festgesetzter Löhne sind in der Sowjetunion nämlich vorbei: Betriebe, die Gewinne erwirt­schaften, zahlen höhere Löhne. »Also strengt sich jeder an«, sagt Nina Pokorskaja. Die Löh­ne in den Textilbetrieben sind seit 1986 um rund 20 Prozent ge­stiegen und liegen jetzt auf dem Durchschnittsniveau sowjeti­scher Fabrikarbeiter.

Neben eigenen Entwürfen setzt »Saljut« auf ein Abkom­men mit dem deutschen Mode­haus Loden-Frey. Seit drei Jah­ren gestatten die Münchner den Sowjets, 30 Modelle in Lizenz zu nähen - mit dem Label »Loden-Frey-Saljut«, Auflage: 150 000 Stück pro Jahr. Freilich fordern die Deutschen erstklas­sige Arbeit von »Saljut«, sch um ihren guten Namen nicht' Gerede zu bringen. Dafür b sich Loden-Frey verpflichtet, 1 Prozent der Lizenzprodukte ar den internationalen Markt" abzusetzen.

Nina Pokorskaja konnte au bereits eigene, wenngleich scheidene Exporterfolge im k pitalistischen Ausland ver chen: 3000 »Saljut«-Mäntel u Kostüme wurden nach Holl verkauft. »Das sind vorläufi noch Experimente«, sagt Nind Pokorskaja, aber sie hofft, dei| Absatz im Westen schon in di sem Jahr verdreifachen zu kö' nen. Und Ludmilla Sinju' stellvertretende Leiterin f Konfektion im Ministerium füll Leichtindustrie, ist sicher, mit der Strategie der Zusammen arbeit auf dem richtigen We zu sein: »Wir werden damit un sere technisch-materielle Bas: schneller verbessern und zei­gen, daß wir erstklassige Mode machen können.«

Davon bekommt der sowjeti­sche Normalverbraucher bis­lang noch wenig zu sehen, da auch die Information über Mo­de in der Sowjetunion erst am Anfang steht. Zwar gibt es in jeder der 15 Sowjetrepubli­ken Modezeitschriften, doch die sind stets schnell vergriffen. Das größte Modemagazin, das »Journal Mod« aus Moskau, er­scheint sechsmal im Jahr in einer Auflage von einer Million - für 280 Millionen Menschen zwi­schen Wladiwostok und Brest. »Wir würden gern häufiger er­scheinen und könnten gut und gern das Doppelte oder gar das Dreifache verkaufen, aber es mangelt an Papier«, klagt Chefredakteurin Lidia Or³owa (siehe Seite 126), die ihre Leser über Mode »informieren und geschmacklich bilden« will. Und natürlich möchten sie und die Redakteure des Modejour­nals, wie auch die Designer und die Direktorinnen der Konfek­tionsfabriken, öfter als bisher in den Westen reisen, um sich auf Modemessen inspirieren zu lassen.

 

»Das gesamte intellektuelle Potential muß mobilisert wer­den«, fordert Michail Gorba­tschow. Denn die Urenkel der Großen                Oktoberrevolution sind selbstbewußter geworden. Im Zeichen von Glasnost und Perestrojka bestimmen die jun­gen Leute ihr Outfit selbst. »Es steckt doch nun mal in den Men­schen drin, sich modisch zu klei­den«, sagt Raissa Sawina, »das ist bei uns nicht anders als bei Ihnen.

«             Gerhard thomssen

Vizeminister Iwan 6. Grlzenko (rechts) mit seinem Mitarbei­ter Wladimir Jellsarow und STERN-Redakteur Gerhard Thomssen

 

Die feinsten Felle der Welt kommen aus der UdSSR. Zweimal jährlich wer­den sie bei einer 100-Millionen-Dol- lar-Auktion in Leningrad versteigert

IM PALAST DER PELZE

(Ein blaugekachelter, riesiger Saal im neoklassizistischen Pa­last der »Sojuzpuschnina* in Le­ningrad. In engen Reihen stehen zehn Meter lange Ständer, soge­nannte Fellhaken. In halber und ganzer Höhe hängen Tausende Bündel mit Fellen. Ein Kürsch­ner. Der Reporter)

Das Mädchen mit den dun­klen Augen kommt aus dem schmalen Gang zwischen den Fellhaken, und erstrahlt. »Jetzt werd’ ich schwach.« Dabei hat er sie gar nicht angesehen. Hat er denn nicht ihren Mund be­merkt, diese vollen und schwe­ren Lippen, wie Männer sie in ihren Träumen küssen? Nein, Augen hat er nur für das Bündel mit Fellen, das sie ihm auf den schräg geneigten Tisch unters Neonlicht legt. Auf dem Etikett steht die Zahl 23 293.

Sie sind zusammengeschrum­pelt und so klein wie ein Unter- tcller. Ihr Braun hat einen Stich ins Graue. Oder ins Blaue? Und die Spitzen der Haare blinken wie versilbert. Ich streichle dar­über, aber das sind ja keine Haa­re. Das sind Härchen. Allerfein­ste. Er pustet darüber, und sie wogen hin und her wie ein Korn jurij Andropow wäre er ger­ne zu Diensten gewesen. |Denn der damalige Gene­ralsekretär der KPdSU war bekannt als Kenner edler awatten, und die hatte Pierre Irdin, der sich 1983 anschick- , den roten Markt zu erobern, seit langem. Doch weil ein sol- Angebinde wohl doch zu Sofan gewesen wäre, brachte der Pariser Macher, der eigent­lich Pietro Cardini heißt und Venetien stammt, nach inem ersten Moskau-Besuch S freundschaftliche Geste zu- chst eine russische Rock- per in Paris auf die Bühne; und bei seinen weiteren Mos­kau-Visiten hatte er immer wieder mal ein paar hübsche Jacketts für Freunde im Gepäck.

I Bald konnte man den klei­nen, energischen Herrn mit der [untrüglichen Geldwitterung, der bereits im nachmaoisti- schen Peking eine getreue Ko­pie des Pariser Kult-Restau­rants »Maxim's« etabliert hatte und in Moskau in Kürze ein Gleiches tun will, im Lande Unisex-Steppjacken schon cht gut leiden.

Dann hatte Cardin auch noch Glück. Mit Glasnost und Pere- ojka kamen Raissa, Gorba- hows elegante Gattin, und Bewußtseinswandel des of­fiziellen Sowjetmenschen. Mo­de ist heute in der UdSSR nicht nger höchster Ausdruck der ekadenz, sondern etwas, das macht. Raissa besuchte im Oktober 1985 Cardins Atelier in Paris und war von inen Kreationen so begei- wie der Meister von ihr: j»Sie ist sehr schön, sehr elegant und sie kleidet sich göttlich.«

Cardin bekam grünes Licht für seine langgehegten Pläne. Im April 1986 Unterzeichneten er und der sowjetische Vizemi­nister für Leichtindustrie, zu- ändig für den Bekleidungs­ein Fünf-Jahres-Ab­kommen, das dem Mann, der in 198 Ländern der Welt mit sei­nem Markenzeichen vertreten ist, den riesigen Sowjetmarkt öffnet. 32 Textilfabriken in der UdSSR sollen in Zukunft Da­men- und Herrenmode nach je­weils rund 50 Entwürfen aus der Sommer- und Winterkol­lektion Cardins produzieren. Alle versehen mit dem pre­stigeträchtigen Etikett »Pierre Cardin Paris« in lateinischen Lettern und, an unauffälli­gerer Stelle, das Zusatz- Label »Pierre Cardin Paris/ Moskau« in kyrillischen Buch­staben.

Wie aber, Herr Cardin, halten Sie es mit der Qualität? Mit dem hohen Standard von Stoffen und Verarbeitung, der Cardin-Produkte gemeinhin auszeichnet? Gelten sowjeti­sche Textilien nicht als faden­scheinig und sowjetische Nadelkünste als eher schlam­pig?

»Aber ich bitte Sie«, ant­wortet der Meister fast ärger­lich, »ein Land, das Raketen zum Mond schickt, kann auch ein Jackett tadellos fertigen.« Mit der Gorbatschow-Ära sei der Wille zur Qualität erwacht, erklärt Jeff Knipper, im Haus Cardin zuständig für Auslandslizenzen. »Unsere Techniker, die die sowjetische Cardin-Produktion überwa­chen, entdecken keinen Unter­schied zwischen den französi­schen Originalmodellen und der russischen Lizenz-Produk­tion.«

Nach Knippers Worten hat das sowjetische Leichtindu- strie-Ministerium für die Car­din-Linie modernste Textil­maschinen, zum Teil  laser­gesteuert, in Deutschland und Italien geordert, und die besten Stoffe, wenig Synthetik, viel Wolle und Baumwolle, für diese Lizenz-Produktion eingeplant.

Seit ein paar Monaten arbei­ten zehn der vorgesehenen 32 Fabriken, die übrigen sollen im Lauf dieses Jahres folgen. Im gesamten Sowjetstaat sol­len dann die Cardin-Modelle zu haben sein. Im Augenblick kann man sie allerdings nur in Moskau, in Kiew, Tiflis und den baltischen Republi- ken Estland und Litauen kau­fen.

100 bis 400 Rubel kostet ein »Cardin«. 200 bis 300 Rubel ist der Monatsverdienst eines Facharbeiters. »Doch, doch, die Leute haben genügend Geld«, sagt Cardin, »sie haben in den vergangenen Jahren zwangsweise gespart, weil es kein attraktives Warenangebot gab.« Heute warten sie in lan­gen Schlangen vor dem Mos­kauer Kaufhaus »Lux«, eines der drei Geschäfte, das in der sowjetischen Hauptstadt Car­din-Mode vertreibt (siehe Sei­ten 132-139).

Die Modelle haben sie schon zu Hause »vorbesichtigt«: Seit einigen Wochen strahlt das staatliche Fernsehen Werbe­spots für die Pierre-Cardin-Li- nie aus, eine unerhörte Neuheit in der Sowjetunion. »Diese Werbung ist noch, wie soll ich sagen, ein bißchen old-fashio- ned«, meint Rnipper, »aber sehr charmant.« (In der Zwi­schenzeit hat die italienische Werbeagentur Caleidos mit den Sowjets einen Vertrag über professionelle TV-Spots abge­schlossen.)

Pierre Cardin »made in the Soviet Union« soll nicht nur den Inlandsmarkt bedienen, mit der Prestigemarke wollen die Russen auch in den soziali­stischen Bruderländem eine Modeoffensive starten. Knip- per: »Bis hin nach Kuba oder Kongo-Brazaville.«

Das Haus Cardin konnte 1987 rund 15 Millionen Mark an Lizenz-Gebühren von der UdSSR kassieren. In diesem Jahr werden es bereits an die 100Millionen Mark sein. Dafür haben die Russen das Recht er­worben. in Paris aus den Kol­lektionen jeweils die Modelle herauszupicken, die ihnen ge­nehm sind, ohne daß ihr franzö­sischer Partner auf die Auswahl Einfluß nimmt. Das Hauptpro­blem der sowjetischen Einkäu­fersei es, die Kreationen zu fin­den, die für das eisige Sibirien ebenso taugen wie für das sub­tropische und muselmanische Kasachstan, sagt Knipper. »aber soll nur keiner glauben, diese Leute würden die neue­sten Modetrends nicht ken­nen!«

Auch im Hause Giorgio Ar­mani. Cardins Mailänder Kon­kurrenten, ist man der Mei­nung, daß die UdSSR modisch durchaus up to date sei. Theo­retisch. »Die Frauen in Moskau kopieren aus westlichen Mode­zeitschriften etwa die Modelle von Ungaro und versuchen sie

dann nachzuschneidern«, sagt Gabriella Forte, Armanis Ma­nagement-Direktorin. Leider fehle es ein bißchen an geeigne­tem Material.

Ein Franzose ist der erfolgreichste West-Designer in der UdSSR: Pierre Cardin macht mit Lizenzen Millionen

GOLDENER SCHNITT NACH OSTEN

 

Wie Cardin hätte auch Ar­mani in der UdSSR Fuß fassen können. Anfang Juni 1987 führ­te er seine »Emporio«-Kollek- tion, seine preiswerte Linie für die Jugend, in Moskau vor. Zweimal vor geladenen Gästen aus Partei, Kultur und Textil­branche im »Allunions-Zen- trum« (siehe Seiten 126-128). Und dann noch einmal, priva- tissime, für die entscheidenden Damen und Herren im Ministe­rium für Leichtindustrie.

»Die sowjetischen Manne­quins waren phantastisch«, sagt Signora Forte, »nur mußten wir heftig auf sie einreden, sich ihr millimeterdickes Make-up ab­zuschminken, das überhaupt nicht zum sportlich natürlichen Armani-Stil paßt.« Außerdem, so die vereinzelte Kritik sowje­tischer Gäste, habe man »die Kollektion ein bißchen festli­cher, pompöser erwartet«. Mehr Glanz und Glitter.

Armani wollte nicht glittern. »Wir kennen jetzt den Markt, aber wir haben im Augenblick andere unternehmerische Zie­le«, sagt Gabriella Forte, »Ar­mani wird es in Moskau in den nächsten Jahren nicht geben.« Der hohe Qualitätsanspruch des Hauses, auch die recht hap­pigen Preise, seien mit dem sowjetischen Textilmarkt und dem Lebensstandard der Be­völkerung zur Zeit noch nicht recht zu vereinbaren. Das klingt anders als bei Cardin.

Die übrigen Großmeister der italienischen Mode zögern ebenfalls noch, sich auf den Marsch nach Moskau einzulas­sen. Gianni Versace hat 1987 für ein Mauricc-Bæjart-Ballett, das in Leningrad aufgeführt wurde, die Kostüme entwor­fen. Das war’s fürs erste. Und das Haus Benetton verhandelt schon seit Monaten mit den Sowjets über ein Joint Venture. Noch ist unentschieden, ob die Benetton-Regenbogenwelt in Moskau, Leningrad oder Kiew Einzug halten wird. »Die Rus­sen wollen nicht unsere Mode kaufen«, sagt Tino Cosma, der Präsident des Verbands italie­nischer Kleiderproduzenten, »wir sollen sie nur in die Lage versetzen, diese Mode selbst herzustellen.« Das spart kost­bare Devisen.

Dennoch laufen etliche Ge­schäfte. Da auch in der Sowjet­union Italien als das Modeland schlechthin gilt und Italiener,

Yves Saint Laurent, Mo­de-Zar aus Paris, machte sich zum Jahreswechsel 1986/87 auf nach Mos­kau und Leningrad und präsentierte dort auch Ralssa Gorbatschows die gesamten Werke seines Mode-Schaffens, wie zu­vor schon In New York und Peking. Die sowjetischen Besucher waren begei­stert, Kontakte fiir die Zu­kunft sind bereits geplant

 

»EINE KOOPERATION MIT DER EG IST MÖGLICH«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

von zu Hause an eine wuchern­de und unfähige Staatsbürokra­tie gewöhnt, mit den schwerfäl­ligen sowjetischen Funktionä­ren verhältnismäßig gut zu­rechtkommen, sind sie auf dem Textilsektor ein bevorzugter Geschäftspartner. Zwei italie­nische Firmen bauen derzeit ein Nylon-Werk in der Sowjetuni­on, das die Hälfte des russi­schen Gesamtbedarfs an Aus­legeware decken soll. Der Näh­maschinenhersteller Necchi in­stalliert gerade Kleiderfabri­ken, der Schuhproduzent Si- mod baute ein Werk, das im vergangenen Jahr 1,6 Millionen Paar herstellte, die Firma Delfi- no aus Ancona errichtet eine schlüsselfertige Anlage für Kin­derkleidung.

Schlecht dran sind bei die­ser zunehmenden Übertragung von Textil-Know-how nur die Firmen, die bisher Mode »made in Italy« in die UdSSR exportierten. Für derlei Ge­schäfte haben die Russen jetzt keine Dollars mehr übrig. Jeans-Händler Roberto Righi: »Das letztemal haben sie mir als Bezahlung Bettlaken und Schweinehäute vorgeschla­gen.« TEJA      FIEDLER

 

Auktionssaal der Pelz- handelsorganlsatlon »So- Juzpuschnlna«: Oie Broker aus aller Welt bieten sich vier Tage lang ein Dollar- Duell um edle Rauchwaren

 

»ALLES.WAS VON ZWEITRANGIGER BEDEUTUNG IST, AUSMISTEN«

MICHAILGORBATSCHOW

 

Studentinnen arbeiten den Kürschnern zu, wenn sie die kostbaren Felle prüfen. Verkauft wird »Rohware«, die »zuge­richtet« werden muß. Am allerbesten macht das die US-FIrma »Melskln«. Ihren Stempel findet man nur In den edelsten Zobeln

»WIR HABEN EINEN RIESIGEN BERG ARBEIT VOR UNS«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

S feld im Wind. Wie wohlig sich i das anfühlt. »Wenn sie nackt

UJ g unter einer Decke aus solchem £ Fell schlafen«, sagt er mit erreg- | ter Stimme, »ist das so, als wür- “■ den sie von Tausendfüßlern ge­streichelt. Dann haben Sie die ganze Nacht einen Ständer.«

Ich schaue ihn entgeistert an. Der Mann ist Hanseat und hat als Kürschner und Pelz-Desi- gner den allerbesten Ruf, die allerfeinste Klientel, und er lacht heiter-herausfordernd. »Tja«, sagt er, »Pelze, das ist Sinnlichkeit, das ist Sex.« Und dann sieht auch er auf einmal die schweren Lippen. »Raten Sie mal, warum die Mädchen hier alle so schön sind, auch das gehört dazu.« Dann liebkosen seine Augen wieder die Felle und vergaffen sich in »diesen Schimmer von Rauhreif«. Der Blick eines Besessenen. Diesen Blick haben Geiger, wenn sie eine Stradivari in die Hand neh­men. Juweliere, wenn sie Edel­steine und Perlen anfassen. Fel­le, aber was für welche. Das ist sie, die Zarenqualität. Nicht Farmware mit dem tiefen Braun, das in den USA und in Japan so sehr geschätzt wird, aber »junge Frauen alt macht und alte noch älter«. Nein, es sind Wildtiere aus Bargusinski in Sibirien, wo der Winter das Thermometer auf minus 50 Grad sinken läßt und wo in Ko- niferen-Wäldern der weichste, der wärmste, der kostbarste Kälteschutz wächst. An einem bissigen Tierchen aus der Fami­lie der Marder mit einem schmalen, länglichen Maul und weißlich geränderten, dreiecki­gen Ohren, das Eichhörnchen reißt, Fische fängt und auch den Honig wilder Bienen schleckt: dem Wildzobel.

»Spitze, das ist Weltspitze«, sagt er heiser-jauchzend, »das suche ich schon seit Jahren.« Er öffnet ein Täschchen von Louis Vuitton und wirft einen Zobel auf den Tisch. Er schimmert grau-blau wie eine dunkle Ba­rockperle. »So werden die mal aussehen«, sagt er und wendet das Fell und zeigt auf einen Stempel. »Meiskin« ist da zu lesen, ein Anagramm aus den Namen »Meisel - Peskin«. Die sitzen in New Yorks 34. Straße und sind »die Weltmeister im Zurichten«. Nur von Zobeln. Zurichten - das ist das Gerben der Felle, das Veredeln, das Verfeinern der Farben. Er braucht noch ein paar solcher Felle. 70 Stück davon hat er in den letzten fünf Jahren auftrei­ben können, und mindestens 30, eher 40 braucht er noch

für das Kunstwerk, von dem er für seine Kundin träumt. Gute Kundinnen sind nicht Käuferin nen - das sind die fernen Ge­liebten eines Designers.

Nur 35 Felle sind’s, die ihn in diesem Bündel haben schwach werden lassen, eines so schön wie das andere. Natürlich mit diesem Rauhreif. Aber das reicht nicht. Vier solche Bündel müßte er haben, soll der Mantel den Körper umfließen. Aber woher nehmen? Nicht einmal zehn Prozent der Felle haben das Funkeln, das die Augen leuchten läßt. »Wie ist es, Alfred, gibt’s mehr davon?« Alfred, ein bebrillter Brite, ist Zobel-Spezialist und Angestell­ter bei Gerd Hornburg, einem Hamburger Broker mit Ge­schäftssitz in London, der für den Kürschner in Leningrad in den Ring geht: in die Auktion. Künstler kaufen nicht, Nerven­sache, sie lassen kaufen und zahlen dem »Broker zwischen 1,5 und 3 Prozent«. Alfred blät­tert in einem dicken Papierbün­del. Es sind die lose zusammen­gebundenen Auktions-Katalo- ge. Neben die Nummern hat er Codes und Kürzel gemalt, die nur er lesen kann. Bewertun­gen für Farbe, Größe, Qualität und für Preise. Alfred murmelt dem Mädchen etwas zu. 23 294 und 23 295 kommen auf den Tisch. Igitt. »Zu bräunlich, die geben keinen Anschluß her, weg damit, ich hasse diese Far­be.« Aber 23 292, »das ist’s, das ist wieder Weltspitze«. Ist auch nicht zu dick, denn »in den ganz dichten Fellen sehen die Wei­ber so schwer aus, und wer will schon in einem 100 000-Mark- Mantel aussehen wie . . .?« Er bremst seinen Überschwang und schenkt sich den Vergleich.

Das Mädchen schleppt Bün­del um Bündel: 23 404, »ja, das ist schön, aber verdammt, was ist denn das, das ist ja verpißt!« Er blickt auf. »Sorry, so heißt das bei uns, wenn die Farbe verlaufen ist.« Beim nächsten flucht er. »Verdammte Schei­ße, hauen die einem so was drunter, hier ist ’ne Fehifarbe. Aber das ist eben unser Risi­ko.« Alfred studiert weiter Codes und Kürzel, das Mädchen schleppt, der Meister schaut und faßt kurz hinein und sagt »no« und »weg«. Ein Broker aus Frankfurt, am Vorabend unser Trinkgenosse, kommt und fragt: »Was suchst du?« Er zeigt sein Muster. »Das findest du nur in Jenissejsk«, sagt der Broker und ordert Nummern. »Aber die kommen ja aus den Orangenhainen von Spanien«,

Während des Staats­besuches Ihres Mannes In Paris besuchte Raissa Gorbatschowa Im Oktober 1985 das Modehaus von Pierre Cardin. Heute Ist der Franzose mit den Sowjets ganz groß Im Geschäft: Zehn Fabriken produzieren bereits nach seinen Entwürfen feine Modewaren, 22 sollen In diesem Jahr folgen

 

MUSSEN DIE IMPORT- GEISSEL BESEITIGEN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

Im Museum der Moskauer Filmgesell­schaft »Mosfilm« werden Raritäten altrussischer Modekultur auf bewahrt und die Kostüme großer Kinoerfolge

TRACHTEN ZUM TRAUMEN

Eingehüllt In »Sarafans«, lange Tragerröcke aus Lei* nen mit Stickereien, und weite Hemden, um Kopf und Schultern bunte Kasch­mirtücher - so gingen Frauen um die Jahrhun­dertwende In Nordrußland zum Fest. In den Großstäd­ten orientierten sich die Damen der Gesellschaft an Pariser Eleganz. Zum Ausgehen schlüpften sie In Schnürstlefeletten aus goldenem Nappa-Leder

 

Während des Staats­besuches Ihres Mannes In Paris besuchte Raissa Gorbatschowa Im Oktober 1985 das Modehaus von Pierre Cardin. Heute Ist der Franzose mit den Sowjets ganz groß Im Geschäft: Zehn Fabriken produzieren bereits nach seinen Entwürfen feine Modewaren, 22 sollen In diesem Jahr folgen

Nicht nur eine umfang­reiche Kollektion von ein­maligen Nationaltrachten hat Maja Baranowskaja, Kuratorin des Klelder- Museums bei »Mosfllm«, zusammengetragen. In Ihrer Schatzkammer wer­den auch die Orlglnal- kostiime aus weltberühm­ten Filmen aufbewahrt. So der Brokatmantel mit Pelzkragen, den Nikolai Tscherkassow 1945 ln Sergej Eisensteins Kult- fllm »Iwan der Schreck­liche« trug. Das Kostüm der Tänzerin Anna Paw­lowa Ist eine Kopie: Das Original hängt In London

 

»DIE KULTUR JEDES VOLKES IST EIN SCHATZ, DEN MAN NICHT VERLIEREN KANN«

MICHAIL GORBATSCHOW

Regale, Regale, Regale - die ganze, riesige, sech­zig Meter lange Halle ist an beiden Längsseiten vollgestellt mit vier Me­ter hohen und zehn Meter tie­fen Regalen. Sie stehen dicht an dicht und müssen mit Winden bewegt werden, damit sich schmale Gassen bilden. In ih­nen hängen, in zwei Reihen übereinander, Anzüge, Hem­den, Kittel, Jacken, Röcke und Kleider. Uniformjacken napo- leonischer Soldaten, Leder- Blousons von Fliegern aus dem Ersten und dem Zweiten Welt­krieg, Generalstrachten und Bauernkleider. Hallen, Hallen, Hallen - vollgestellt mit Borden und Stellagen, in denen - neben allerlei Alltagskrimskrams aus mehreren Jahrhunderten, Tau­sende von Schuhen jeder Art und Form stehen.

»Wir haben hier über eine Million Kostüme«, sagt Micha­il G. Waluschkin, »mit denen wir einen Film über Napoleons Rußland-Feldzug ebenso aus­staffieren können wie bei­spielsweise ein Drama von An­ton Tschechow.« Der Herr über den gesamten Fundus strahlt: »Wir besitzen sogar die weiße Sommeruniform Stalins und die graue, die er im Win- Der »Ponjawa«, ein wei­ter, geriischter und ge­raffter langer Rock, wur­de vor über hundert Jah­ren oft dreifach überein­ander angezogen. Fest­liche Modelle trugen die Frauen vom Lande oft ihr ganzes Leben lang und vererbten sie dann an die nächste Generation. Diese Originale aus Nord-, Süd- und Zentralruß­land wurden Im Sommer mit flachen Schuhen aus Flechtwerk getragen

 

»UM VORAN-ZUKOMMEN,MUSSTEN WIR ZURUCK ZU UNSEREN WURZELN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 

ter trug. In einer Werkhalle steht der gepanzerte Wagen, mit dem Chruschtschow zur Jagd fuhr.« Alles Originale natürlich.

Wir hatten nichts anderes ge­sucht als einen Ort, den die Mo­defotografen und -redakteure eine »location« nennen - den richtigen Hintergrund für die geplante Inszenierung unserer Fotos, und vor allem mit professionellem Service, vom Bühnenarbeiter bis zur Wind­maschine. Gelandet waren wir bei Mosfilm (siehe Seite 200), einem der größten Film-Studios der Welt und mit 50 Hektar so riesig, daß man von Studio zu Studio auf ein Auto angewiesen war (die Fotos mit der Desi­gner-Mode, Seiten 114-125, der Avantgarde-Mode, Seiten 140-150, und die Fotos mit den alten Trachten, Seiten 188-197, sind dort entstanden).

Der gigantische Fundus ist in mehr als sechs Jahrzehnten gefüllt worden. Es war Lenin selber, der dem für die Volks­bildung verantwortlichen Kom­missar Anatolij Lunatscharskij erklärte, »daß für uns von allen Künsten das Kino am wichtigsten ist« - eben als eine Massen-Kunst, die weiteste Schichten des Volkes erfassen kann.

Seit Anfang des Jahrhun­derts hatte es in Rußland eine eifrige, private Filmindustrie gegeben. 1919 wurde sie ver­staatlicht, und an die Film­schaffenden erging der Auf­trag, die »bürgerlichen Mär­chen« zu entlarven. Schon Mit­te der zwanziger Jahre brachte das sowjetische Kino eines der größten Genies der Film-Ge­schichte hervor: Sergej Eisen­stein (1898-1948). Mit »Pan­zerkreuzer Potemkin« legte der damals 27jährige den Grundstein für den realisti­schen Film. Die Kostüme, die Nikolai Tscherkassow in Eisen­steins Anfang 1945 uraufge- führtem »Iwan der Schreck­liche I« trug, gehören zu den großen Kostbarkeiten in den Requisitenkammern der Mos­kauer Filmfirma. Kaum weni­ger bedeutend waren Wsewo­lod Pudowkins Verfilmung von Maxim Gorkis »Die Mutter« und Alexander Dowschenkos »Erde«.

Heute entstehen in den 19 Studios von Mosfilm jährlich über 50 Filme, ein Drittel der ge­samten sowjetischen Produk­tion. Über 5000 Mitarbeiter werden von der Staatsfirma, die sich im Zeichen von Perestrojka als Profit-Unternehmen be­haupten muß, beschäftigt. Dar­

unter sind allein 120 Regisseure * und 270 fest angestellte Schau- § Spieler. Sie betreiben in Moskau jjj überdies ein eigenes Theater, | um auch an drehfreien Tagen * einer sinnvollen Beschäftigung £ nachgehen zu können.        a

Regisseure erhalten, wie f hochqualifizierte Ingenieure * oder Facharbeiter, ein festes £ Gehalt von 300 Rubel im Mo- ± nat; sie können aber mit einem | Bonus von 8000 bis 12 000 | Rubel rechnen, wenn ein Film £ mindestens 17 Millionen Zu- f schauer findet. Da die 200 Mos- 2 kauer Kinos gut besucht sind, £ gehören Regisseure und Schau- g Spieler, aber auch die für ein £ Skript mit 8000 bis 12 000 Ru- § bei bezahlten Autoren zu den “ Privilegierten des Landes. »Mit £ dem westlichen Star-System«, w sagt Jurij Dobrochotow, Chef der internationalen Abteilung und einer der Chefredakteure des Drehbuch-Kollegiums, »ist das allerdings nicht zu verglei­chen«, und sein leicht mokantes Lächeln verrät das unausge­sprochene »gottlob«. Doch sieht man westliche Stars, vor allem bei Co-Produktionen, gern bei Mosfilm - derzeit wer­den 19 Filme mit italienischen, englischen und deutschen Firmen in Moskau und in der UdSSR gedreht.

Neben dem Fundus, in dem die Kostüme und Requisiten von vielen hundert Filmen la­gern, gibt es bei Mosfilm in ei­nem nur 30 Quadratmeter gro­ßen Raum ein wahres Schatz- kästlein mit National-Trachten des Vielvölker-Staates, die kaum weniger kostbar sind als die Exponate der legendären Leningrader »Eremitage«. Ge­hortet und gehütet werden sie von Maja Baranowskaja, die im Lauf der Jahre zur Historike­rin, Ethnographin und Mode- Spezialistin geworden ist. Wann immer Designer, Ko­stümbildner, Ausstatter und In­neneinrichter sich mit »Stil-Fra­gen« zu quälen haben, Maja weiß die Antwort. Sie hat in jahrelanger Arbeit Röcke, Blu­sen, Hemden, Überwürfe, Kit­tel, Stolen, Brautkleider, Ar- beits- und Alltagstrachten aus Provinzen wie Archangelsk, Nowgorod, Wologda, Pskow oder aus Orjol, Kursk, Tam- bow, Woronesch und Rjasan zusammengetragen.

Unsere beiden Moskauer Foto-Modelle, die schlanke, große und dunkle Susanna und Mila, die mit dem hellen Per- gament-Teint und den renais­sanceroten Haaren, standen entzückt vor ihrem eigenen

Spiegelbild, angetan mit einem »Ponjawa» (Rock) mit breitem Webgürtel und einer Schürze. Oder im nordrussischen »Sara- fan«, einem Trägerrock, der von einem Gürtel zusammen­gehalten wird. Sie staunten über die unendliche Vielfalt der Kopftrachten, über die geschlossenen »Kika« oder »Powojnik« oder »Sbornik«, die nur von verheirateten Frau­en getragen wurden, oder die offenen Bänder und Reifen der jungen Mädchen. Und ihre Hände griffen immer wieder in die Schals mit den orientali­schen Mustern - sie waren aus Kaschmir, das heute selbst den besten Designern nicht zur Verfügung steht.

Als Jelena Chudjakowa, eine der Avantgarde-Designerinnen (siehe Seite 140-150), die Mäd­chen in diesen Kleidern sah, sagte sie: »Mein Gott, was ha­ben wir für eine Kleiderkultur. Diese Sammlung gehört doch in ein öffentliches Museum, sie sollte für alle von uns zugäng­lich sein.

«JÜRGEN KEST1NG Wenn es Winter wurde In Zentralruftland, dann tru­gen die Frauen vom Lande Anfang des Jahrhunderts die »Obschlm«, eine kurze, wattierte Jacke aus schimmernder Seide. Dazu kombinierten sie, mehrfach übereinander, Ihre weiten Feströcke und knoteten sich große, far­benprächtige Kaschmlr- Vlerecktücher ums Haar

 

»JEDE AUFGABE, DIE MAN ANGEHT, MUSS MAN Mit DEM HERZEN ERFASSEN«

MICHAIL GORBATSCHOW

 


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