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"Der beste Schutz der Dinge ist, uber sie zu schweigen."1994(germ)

"Der beste Schutz der Dinge ist, uber sie zu schweigen."

"Fur das Genanntwerden zahlen die Dinge einen Teil ihrer Realitat als Provision."

Oder: "Um ein Phanomen ausreichend zu beschreiben, mub man einen Mechanismus erzeugen, der das zu erklarende Phanomen erzeugt."

Mit diesen Aphorismen erschwere ich mir regelmabig den Einstieg in Schreibarbeit, deren Inhalt mir besonders nahe geht. Dafur liefern sie mir Kriterien und Denkbruche, mit de­nen sich gut beschreiben labt.

Aleksej Tegin: Schamanistische Musik

Pitljuras ist einer der neuen Treffpunkte in Moskau fur ein bestimmtes, exzentrisches Publikum.

Dieses Haus hatte auch fur Garik Wino- aradow Anziehungskraft, der nun eben­falls dort arbeitet. Der 32jahrige Kunstler entwirft Klangobjekte, die er in theatrali­schen Performances einsetzt. Er gehurte - zusammen mit Andrej Rojter und Nikolaj Fi- latow - zu der für die 80er Jahre wichtigen Gruppe des „Kindergartens". Der „Kinder­garten" hatte von 1984-87 seinen Ort in dem zweistuckigen Gebäude eines ehema­ligen Kindergartens in der Chochlowski Gasse. Zu einer Zeit, als die Künstler der Gruppe „Fliegenpilze", die vorher die wichtigste Szene Moskaus bildete, ihre Ein­berufung zur Armee erhielten, wurde der Kindergarten zum neuen geistiaen Zentrum der Moskauer Kulturszene. bberall in er Stadt dienten Graffitis als Wegweiser zu dem Haus, wo Ausstellungen organisiert, Kunst gesammelt und philosophische De­batten in grober Runde abgehalten wur­den. Kunst und Leben verschmolzen. Dia Rasur von Winogradows Kopf wurde als ästhetisch bedeutsames Ereignis in einem Film dokumentiert. Die frühen Objekte Wi­nogradows wurden hier zu Klanginstru­menten und sein beruhmtes musikalisches oder „bikaponisches" Zimmer entstand. Winogradow ist ein selbsternannter My- stagoge, dessen Mysterium im bikaponi- schen Raum stattfindet. Schlüssel zu seinem Werk ist ein Lexikon von Neologismen, das er im Zusammenhang mit seinen Aktionen erstellt hat. Den wichtigsten Begriff, das „Bi- kapo", definiert er als „Zustand des Spiels und der schöpferischen Aktivität und die Energie dieses Zustands".

Der Kindergarten

Der Raum ist angefüllt mit metallischen Konstruktionen und kinetischen Objekten, einem Wald von Metallröhren, die er nach dem Prinzip der Improvisation unter Einsatz von Gasbrennern, Metallklöppeln oder sei­nes eigenen bekleideten oder unbekleide­ten Körpers, insbesondere des Kopfes, be­spielt. Die Geräusche im Raum, etwa die Flamme eines Gasbrenners, werden über Röhren oder Klangkörper in Form von Zink­badewannen verstärkt. Der Raum liegt mei­stens in von Kerzenlicht erhellter Dunkelheit und vibriert von den Klängen und Schritten. Für Winogradow ist die Kommunikativität und Atmosphäre des Ortes Grundvoraus­setzung der Arbeit. Nach dem Kindergar­ten arbeitete er vor kleinem Publikum im ge­kachelten Badezimmer der Wohnung sei­ner Mutter und fand nun in der Umgebung Pitljuras einen neuen Ort.

Studio des Stylisten Pitljura

Die Situation Moskaus in der postsowjeti­schen Ara ist durch einen kompletten Wer­teverlust geprägt. Trotz der vielzitierten neuen Freiheiten im Verlaufe der Perestroi- ka-Periode unter Gorbatschow, die die Li­nien zwischen dem sozialistischen Erbe und der inoffiziellen Kultur verschwimmen ließen, befindet sich Russland jetzt tatsäch­lich in einem Zustand der „Stunde Null". In den 80er Jahren wurde der Kampf zwi­schen der Unterordnung unter die sozialisti­schen Werte und der dissidentischen Op­position mit anderen Mitteln fortgesetzt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sieht sich Russland in einen Zustand der ra­dikalen Neuorientierung versetzt. Westeu­ropa und Nordamerika verloren ihr Feind­bild und ihre ideologische Alternative. Auch sie stecken in einer tiefgreifenden De­pression und sind auf sich selbst zurückge­worfen. Das geistige und wirtschaftliche Vakuum in Russland erzeugt hingegen ein kreatives Potential für exzentrische Grenz­übergänge. Trotz der fatalen wirtschaftli­chen Situation und dem Fehlen staatlicher Unterstützung zum Aufbau neuer Strukturen herrscht im Bereich der Kultur Aufbruchstim­mung. Diese allgemeine Unsicherheit setzt in der Kultur eine Bereitschaft zum Experi­ment, zum Risiko frei, wobei die Resultate weniger zählen als die Aktionen selbst. Die Schizophrenie, die den Akteuren und ihren Aktionen innewohnt, spiegelt den Werte­verlust der SowjetgeseTlschaft wider. Während Russland im Chaos versinkt, ist Moskau die neue Hauptstadt der unbe­grenzten Muglichkeiten.

movitsch in das Projekt ‘Internat-i-onal- bielka” intergriert hat. sucht seinesgleichen. Die Eichhörnchen (bielka) tanzen und per­formen auf flippigen Modeschauen.

Um den Versuch zu unternehmen. die Atmosphäre im PI 2 Hamburger Leserinnen und Lesern zu vermitteln: Wenn die Hafen­straße. Flora, Villa Lupi und die Kaifu-Ga- lerie in einem zentral gelegenen Block ein gemeinsames Projekt starten würden, könn­te vielleicht in Hamburg ähnliches entste­hen. Dem steht leider unser ausdifferenzier- tes Denken im Wege.

Die WG um Petljura bildet den kommu­nikativen und organisatorischen Kern der Kunstinsel. Die sechs (drei Frauen, drei Männer) teilen sich Küche, Bad und Porte- monaie. Bar, Cafe und second-hand-shop bringen so viel ein, daß jeder gut von der ge­meinsamen Kasse leben kann. Nebenbei ernähren sie ein hinreißendes Hunde-Trio. Auf dem Grundstück wohnen noch ca. zehn andere Künstlerinnen; andere haben dort ihr Atelier, und mehr und mehr nutzen sie den PI2 als Veranstaltungsraum. Konti­nuität hat der Musiker Vonogradov mit sei­nen sonnabendlichen Konzerten gebracht. Sein Ministudio nennt sich “Tibetisches Musikzentrum”; seine Musik ist eine wilde Mischung aus Eisenschrott-Percussion, ti­betischen Mönchsgesängen und kindlichem Feuerkult.

Kaum zu beschreiben sind Bronja und Abromitsch, die das Gehöft schon lange vor der Besetzung bewohnten. Beide sind ca. 60 Jahre alt, von kleinem Wuchs, in unseren Breitengraden wären sie sichere Kandida­ten für die geschlossene Verwahrung. Er ist gehbehindert, auf einem Auge völlig und auf dem anderen fast blind. Mit seiner aus­gewachsenen Lenin-Macke könnte er einen echten Kinohelden aus “Freaks” oder dem “Kuckucksnest” abgeben. Bronja ist ge­spalten in die hutzelige, verängstigte Rent- ner-zwergin und das glücklich tanzende Mannequin: Die neue Moskauer Primabal­lerina der Debila-Kultur. - Kunstkritiker streiten sich noch, ob Avantgarde, Konzep- tualismus oder Soz-Art angesagt sind. De- bila und Dekultura sind die aktuellen Reak­tionen auf den Einbruch des westlichen Tollhauses mit McDonald, Drogen, Dollars und Strapsen.

Im Cafe und in der Bar treffen sich am Wochenende Künstlerinnen und Individuen aller Schattierungen. Bis auf Alkohol ist man/frau drogenfrei und es herrscht eine fa­miliäre Atmosphäre. Dank defensiver Pres­searbeit und guter Preispolitik (kein Ein­tritt/niedrige Preise) treffen sich hier über­wiegend Moskauer Normalverdiener und nicht die gelangweilten Ausländer und dollarverdienenden Neureichen, die bisher fast jeden Moskauer Club in kürzester Zeit “ausdifferenziert” haben.

Mit westeuropäischer Soziokultur hat der P12 wenig gemein, aber sie ließe sich ohne weiteres integrieren, gäbe es dazu das stadtpolitische Umfeld. Im Sinne einer er­weiterten Stadtkultur kann der PI 2 ein Pro­totyp für selbstorganisierte Kunstinseln in­nerhalb russischer Großstädte werden.

Bisher und noch einmal im Juni dieses Jahres unterstutzt der Berliner Senat die “Debilen” mit Reisekosten für Künstleraus­tausch und Transport. Das Goetheinstitut ziert sich noch; vielleicht sind die ja wirk­lich verrückt. Hamburg klebt zu sehr an der Partnerstadt St. Petersburg, um das Kunst­geschehen in Moskau verfolgen zu können - außerdem werden Hanseaten reich durch das Geld, das sie nicht ausgeben.

Wie hoch der Realitätsverlust durch das Genanntwerden im Querstreifen ist, weiß ich nicht. Durch meine Mitarbeit (Projekt­arbeit, Schreiben, Faxen, Kochen und Ab­waschen) wird er hoffentlich aufgewogen.

Aufgrund einer kürzlich gefallenen Ent­scheidung der Moskauer Stadtentwick­lungsbehurde besteht Hoffnung, dab der Gebaudekomplex unter Denkmalschutz ge­stellt wird.



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