Die neue Freiheit in der sowjetischen Kultur bringt nun auch
die Mode einer neuen Modeschöpfergeneration auf den Laufsteg. Und diese jungen
Gestalter aus Musik und Malerei, Tanz und Theater bekennen sich klar zur
Avantgarde - ein Manifest gegen das Grau der Vergangenheit. Es zeichnet sich
ab: Wenn Russland anfängt auszupacken, kann die Londoner «Street fa sh io n»
einpacken.
Moskau,
fruhmorgens. Die Stadt beginnt sich langsam zu regen. Es ist sieben Uhr, die
Zeit der griesgrämigen und halbwachen Arbeiter. Im Gedränge der Metro bei
jedem Halt dasselbe eintönige Schauspiel: Stiefel, Mantel, Tschapkas, einer
wie der andere. Mude Gesichter, mude Kleider.
Seit
1987 sind zudem «genossenschaftliche Couture-Ateliers» erlaubt: Ihre Modelle
sind austauschbar, die Etiketts tragen westliche Namen. Mit handgestrickten
«Adidas»-Mutzen bekennt man sich zum Markenbewusstsein.
Katia Mikoulskaia: russische Lolita
Aen
Lauen tragen kaum zur modischen «Chic ä la russe» gegen «Western look» Doch
da gibt es die Jugend. Und die will raus aus der Uniformität. Ihre
Hauptinspiration findet sie in den Kleidern der Westtouristen. Der dynamische
Schwarzmarkt liefert Information und Material. Der Look der Moskauer Jugend
steht dem ihrer westlichen Klcinstadtgc- nossen nicht nach.
Im Kreis
der «gehobenen» Dreissig- bis Kreativitat
bei. Auch nicht die Preise: Ein paar Stiefel ist fur ein durchschnittliches
Monatsgehalt von 120 Rubel (etwa 380 Franken) zu haben, ein Kleid kostet um die
siebzig. Vierzigjährigen demonstriert , man «chic ä la russe», für Exzentrisches
ist allerdings kein Platz. Ausgenommen bei den Farben: Rot, Rosa und Violett
leuchten um die Wette. Die mondäne Russin fasst in staatlichen Ateliers
arbeiten, die zwar nicht das Prestige des Schwarzmarkts gemessen, dafür aber
höhere
Qualität
und niedrigere Preise bieten. Am berühmtesten ist noch immer das Modehaus des
Couturiers Slava Zaitsev. Anfang der achtziger Jahre wurde er als der «Mann,
der die russische Mode revolutionierte» bekannt. Doch seine Modelle zeugen
eher von seinem Sinn für Qualität denn von Innovation - es bleibt ein Eindruck
von Deja-vu.
Trotzdem:
Zaitsevs «Revolution» hatte Signalwirkung. Beim Modefestival, das 1987
stattfand, waren 30 Modehauser aus der ganzen Sowjetunion vertreten. Zum
erstenmal triumphierte während dreier Tage auf dem Laufsteg die Mode; vergessen
wurden weder die vollschlanke Frau noch das Kind, weder Pelze noch Brautkleider
aus Spitzen. Der dekadenten Ambiance eines Pluschsalons hat man die gesunde
Atmosphare einer Turnhalle vorgezogen. Das Defilee beginnt mit Liena
Khoudiakova, der Enkelin von Varvara Stepanova. Einer beruhmten Stylistin der
zwanziger Jahre. Khoudiakova inspiriert sich an den Modellen ihrer illustren
Vorfahrtn. kreiert futuristische, geometrisch bedruckte Roben. Ihre neuste Kollektion.
ganz in Grau Weivs und Metall, nennt sie «prosaisches Gewand». Unter den fünf
interessantesten jungen Modeschöpfern bleibt Liena Khoudiakova der herkummlichen
Vorstellung von. Bekleidung am stärksten verhaftet.
Lebenslust
- nichts für Moskaus Strassen
Lebenslust
verspruht dagegen die Mode der 22jahrigen Architekturstudentin Katia
Mikoulskaia Sie setzt die verschiedensten Materialien wie Puzzlestücke
zusammen, verwendet Armeeuniformen und Secondhand-Kleider. Die alten Stoffe
fügen sich zu neuen, verführerischen Kleidern zusammen, in denen sich das
Nötige mit Kapriolen paart: Kreationen für moderne Lolitas. Obwohl sic schon
ein Renommee im In- und Ausland genicsst. verhindern einstweilen die
säuerlichen Blicke der Passanten, dass ihre Kleider auf den Strassen Moskaus
getragen werden.
Ernst
und seriös erscheint auf den ersten Blick der Stil von Katia Filippovas
Modellen. Die 27jahrige lebt von Illustrationen und Maquetten fur Verlage, doch
ihre Kreationen haben sie bereits zur bekanntesten unter den
Avantgarde-Stylisten werden lassen. Seit nunmehr drei Jahren in der Mode
tätig, zeigt sie ihre Modelle regelmässig bei verschiedenen Anlässen und
Konzerten. Sie bevorzugt Schw arz. Gold und Silber, spielt mit den Kontrasten
von schweren, warmen Stoffen und kühlem Metall. Ketten, Halsbander, hohe
Stiefel aus Glanzleder, tief ausgeschnittene Lackklcider - Filippovas Stil
bewegt.
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